Die Soziologin Katharina Bluhm über die ideologischen Triebfedern der russischen Politik

»Die Invasion war ein Ausdruck von Panik«

Seit Jahren erstarken in Russland Kräfte, die eine Zukunft mit Russland als eigenständige Weltmacht anstreben. Dieser Anspruch müsse gegen die Dominanz der westlichen Staaten erkämpft werden.
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Warum haben so viele Beobachter nicht mit der russischen Invasion in der Ukraine gerechnet?

Die Invasion war ein radikaler Schritt, der vom bisherigen, eher risikoscheuen Vorgehen Putins abweicht. Deshalb hatte auch ich erwartet, dass die Militär­aktion, die sich über das vergangene Jahr hinweg anbahnte, ausschließlich auf den Donbass zielen würde, nicht auf die ganze Ukraine. Dass es so kam, war für mich ein Schock.

Wie erklären Sie sich diese Entscheidung?

Es gab verschiedene Faktoren. Einerseits hat die russische Führung einen leich­ten Sieg erwartet. Die Fehlinformationen über die Ukraine müssen enorm gewesen sein – oder schlicht die Blindheit Putins, denn um zu wissen, dass sich seit 2014 das ukrainische Nationalbewusstsein stark entwickelt hat, braucht man keine Geheimdienste.

»Es geht der russischen Regierung nicht um eine Restauration der Sowjetunion, sondern um die Zukunft Russlands als eigenstän­di­ger Pol in einer sich neufor­mie­renden multipolaren Weltordnung.«

Spielte auch Chauvinismus eine Rolle?

Ja, der großrussische Chauvinismus, der höchst empfindlich ist, sobald die ei­genen Interessen und Vorstellungen nicht ernst genommen werden, der aber historisch kaum jemals in der Lage war, sich in die Interessen und Wahrnehmungen der sogenannten kleinen Völker hineinzudenken.

Was für weitere Gründe gab es?

Ein dritter Faktor war, dass sich die Elitenkonstellation in Russland stark zugunsten der Geheimdienste und der sogenannten konservativ-patriotischen Kräfte verschoben hat. Die sogenannten Systemliberalen, also regierungstreue Wirtschaftsliberale, waren offensichtlich nicht in die Kriegsvorbereitungen eingebunden, was man etwa am Verhalten der Zentralbankchefin sehen konnte.
Und schließlich war die Invasion ein Ausdruck von Panik. Die russische Führung glaubte, dass es sich um die letzte Chance handeln könnte, die ­Ukraine wieder an Russland zu binden.

Sie argumentieren auch, dass die russische Führung ideologisch agiere. Wie kann man diese Ideologie charakterisieren?

Bei Ideologie denken wir oft an die großen Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts, allen voran den Kommunismus. Über den russischen Autoritarismus unter Putin sagte man hingegen oft, dieser sei unideologisch. Aber wenn man einen etwas bescheideneren Begriff von Ideologie verwendet, als politisches Glaubenssystem, das auf der Basis bestimmter Prämissen Welterklärungen liefert und Handeln anleitet, sieht man, dass sich Putins Regime über die Jahre ideologisiert hat. Das war nach innen und nach außen gerichtet. Nach innen ging es um die Vorstellung, dass man eine nationale Idee brauche, die den multiethnischen Staat Russland zusammenhält. Die Idee eines Nationalstaats sei nicht passend für Russland, stattdessen gab es eine Hinwendung zu Imperiumskonzepten. Und damit verbunden eine Abgrenzung zum Westen. So ist die Propagierung der sogenannten traditionellen Werte zu verstehen: Das sind zum identitären Kern der sogenannten russischen Welt erklärte Abgrenzungskonzepte vom heutigen Westen, der multikul­tureller, liberaler, kosmopolitischer geworden ist.

Und inwiefern richtete sich diese Ideologie nach außen?

Es geht um eine Herausforderung der bestehenden Weltordnung. In der Wahrnehmung der russischen Führungsschicht hat die Welt, wie sie nach der Auflösung der Sowjetunion entstanden ist, keinen Platz für Russland. Stattdessen baut sie auf das Konzept einer sogenannten multipolaren Weltordnung, in der Russland einen eigenständigen politischen, ökonomischen und kulturellen Faktor von Gewicht bilden soll. Ihre Wahrnehmung ist, dass der Westen diesen Anspruch Russlands immer ignoriert, delegitimiert und bekämpft habe. In einer Welt, in der es aufsteigende Mächte gibt, allen voran China, aber auch Indien, und in der die USA nicht verschwinden – obwohl die russischen Führungsschichten glauben, dass die USA eine absteigende Macht sind –, verschärft sich die Frage nach dem Platz Russlands. Putins Hinwendung zur Geschichte wird bei uns oft als Wunsch nach Restauration der Sowjetunion oder gar des Zarenreiches begriffen, aber die Dringlichkeit seines Handelns hängt nicht nur mit der vermeintlich günstigen Gelegenheit oder seiner persönlichen Mission, etwas Vergangenes wiederherzustellen, zusammen. Vielmehr geht es auch und ganz wesentlich um die Zukunft Russlands als eigenständiger Pol in einer sich neu ­formierenden Weltordnung. Die Ironie der Geschichte ist, dass der Versuch, das militärisch durchzusetzen, den langfristigen Grundlagen dieses Anspruchs schadet.

Was hat die Ukraine mit diesen Plänen zu tun?

Sowohl dieses geopolitische wie auch das innenpolitische, zivilisatorische Denken schließt an großrussisches Denken an, in dem Belarus, große Teile der Ukraine und Russland den zivilisatorischen Kern bilden. Das ist das ideologische Gerüst. Aber es gibt auch eine ökonomische Dimension. Und an der, nicht nur an der Frage der Nato-Osterweiterung hat sich der Konflikt um die Ukraine ja auch konkret entzündet. Wir müssen uns fragen, wo es Schnittpunkte gegeben hätte, an denen man noch Chancen gehabt hätte, diesen Krieg zu verhindern. Und ich denke, dass die Zeit vor dem Euromaidan 2014 so ein Punkt war. Damals verhandelte die EU mit der Ukraine über ein Assoziierungsabkommen, während gleichzeitig Russland seit 2012 versuchte, eine Eurasische Wirtschaftsunion aufzubauen. Russische Strategen schrieben damals, dass so eine Eurasische Wirtschaftsunion, die schließlich 2015 aus der bestehenden Zollunion gegründet wurde, ohne die Ukraine nicht funktionieren werde, weil das industrielle Potential des Landes zu wichtig sei. Die EU hat jedoch nicht auf dieses von Russland initiierte Konkurrenzprojekt reagiert, sondern weiter direkt mit der Ukraine verhandelt, ohne sich zu fragen, welche Beziehung sie vielleicht zur Eurasischen Union aufbauen könnte. Das halte ich für einen historischen Fehler.

Zwar hatte sich unter Putin schon früher die Vorstellung entwickelt, dass Russland nicht Teil des Westens sei und ein eigenständige Rolle in der Weltordnung mit eigenen Einflusszonen einnehmen müsse, aber eine klar antiwestliche Haltung ist bei Putin erst sukzessive entstanden. Seit Putins Rückkehr ins Amt als Präsident im Jahr 2012 hat Russland diese Ambitionen viel aggressiver verfolgt. Die EU hat darauf kurzsichtig reagiert.

Inwiefern haben innenpolitische Ereignisse die Ideologisierung der russischen Politik befördert?

Das hat sich synchron vollzogen. Man muss sich die Entwicklungen in der Innen- und in der Außenpolitik wie zwei kommunizierende Röhren vorstellen. In den frühen nuller Jahren war Putins Regierung noch vom wirtschaftslibe­ralen Reformlager geprägt, das hoffte, mit einem starken Staat die Liberali­sierung der Wirtschaftspolitik voranbringen zu können. Aber auch unter Putin gab es immer einen Konflikt zwischen den Wirtschaftsliberalen und dem, was man die staatspatriotische oder nationalpatriotische Gegenbewegung nennen könnte. Dmitrij Medwedjew sprach während seiner Amtszeit als Präsident von 2008 bis 2012 von einer »konservativen Modernisierung«, folgte aber eher dem Wirtschaftsliberalismus. Putins Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 wurde dann innenpolitisch von großen Teilen der konservativen politischen Bewegung unterstützt. Diese richtete sich in jener Zeit gegen die vorsichtigen Versuche der Liberalisierung, aber auch gegen die damaligen Proteste in den Großstädten wegen des Betrugs bei Putins Wiederwahl. Das war ein Scheidepunkt, an dem sich die Mehrheit dieser konservativen Gegenbewegung klar an die Seite Putins stellte. Ab 2013 findet man dann auch bei Putin immer mehr Bekenntnisse zum »gesundem Konservatismus«.

Sie schreiben, ein Bezugspunkt in russischen Debatten über die Weltordnung sei der Soziologe Immanuel Wallerstein. Welche Schlüsse ziehen russische Denker aus der Beschäftigung mit ihm?

Eine der wichtigen Figuren für die politökonomische Agenda des nationalpat­riotischen oder staatspatriotischen Lagers, der sowohl von Rechtskonservativen als auch von Linken rezipiert wird, ist Sergej Glasjew. Glasjew war Minister für Außenwirtschaft in den frühen neunziger Jahren und nahm nach dem Euromaidan 2014 prägenden Einfluss auf die russische Ukraine-Politik, weshalb er auf westlichen Sanktionslisten steht. Derzeit fungiert er als Minister für Integration und Makroökonomie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU). Glasjew bezieht sich in seinen Schriften oft auf die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins, der von einem dominanten Weltsystem mit einem Zen­trum, Semiperipherien und Peripherien ausgeht. Russland sei durch die Globalisierung und die Art und Weise, wie es nach der Auflösung der Sowjetunion in das westlich-kapitalistische Weltsystem integriert worden sei, an die Peripherie gedrückt worden. Ein anderer Autor, der in diesem Zusammenhang oft zitiert wird, ist Friedrich List (preußischer Ökonom, 1799–1846; Anm. d. Red.), der eigentlich Freihandel befürwortete, aber auch die Idee vertrat, dass junge Industrien in ihrer Entwicklungsphase vom Staat geschützt werden müssen.

Dieser protektionistische Gedanke spielt in den Wirtschaftskonzepten der Nationalkonservativen und russischen »Staatspatrioten« eine wichtige Rolle. Deshalb haben Teile dieses Lagers nach 2014 die westlichen Sanktionen sogar begrüßt, weil man dachte, dass die Oli­garchen, aber auch die politische Klasse Russlands, die sonst stark auf den Westen ausgerichtet sind – Kinder auf der Schule in der Schweiz, Villen in Italien und London, Geld in Luxemburg –, nun gezwungen wären, sich auf die Entwicklung Russlands zu konzentrieren. Es wurden Importsubstitutionsprogramme vor allem für die Landwirtschaft und neue umfangreiche »Nationale Projekte« aufgelegt, aber auch unter Sicherheitsgesichtspunkten bestimmte Strukturen geschaffen, beispielsweise das eigene nationale Kartenzahlungssystem Mir. Das mag ein Grund dafür sein, dass man 2022 eher als 2014 glaubte, genug auf Sanktionen vorbereitet zu sein, um den großen Krieg zu wagen.

Hofft Russland darauf, trotz der westlichen Wirtschaftssanktionen bestehen zu können?

Russland hat sich auf ein großes historisches Experiment eingelassen, im Vertrauen darauf, dass die Verbindungen zu China und vielleicht auch zu ­Indien stark genug sein können, um alternative Strukturen zur westlichen Globalisierung und zur westlichen internationalen Ordnung aufzubauen. Und es gibt auch Ansätze, die in diese Richtung weisen. Aber insgesamt hat Russland offenbar das Ausmaß der Sanktionen unterschätzt.

Was bedeutet das für die Eurasische Wirtschaftsunion?

Der Krieg in der Ukraine wurde insbesondere in den Mitgliedstaaten Kasachstan und Belarus sehr genau beobachtet. Das mag jetzt noch keine Folgen zeitigen, aber es schwächt doch auf Dauer den Zusammenhalt einer von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion. Gleichzeitig versucht Russland, diese Integration weiter voranzutreiben. Weil Russland vom west­lichen Zahlungssystem Swift abgeklemmt ist, hat es ein Interesse daran, dass möglichst viele internationale Zahlungen mit Rubel abgewickelt werden. Es gibt sogar die Absicht, einen eurasischen Rubel zu schaffen. Aber durch den russischen Einsatz von Gewalt und politischen Druck nach außen, bei gleichzeitig zunehmender Repres­sion nach innen, ist diese Union ein sehr fragiles Gebilde. Was aus ihr wird, ist eine offene Frage.

 

Katharina Bluhm

Katharina Bluhm ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Osteuropa und Direktorin des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin. Ihre ­Forschungsschwerpunkte sind russischer Neokonservatismus, Kapitalismusformen und Institutionentheorie.