Einem neuen Bericht der Universität von Tel Aviv zufolge ist der Antisemitismus 2021 weltweit angewachsen

Ansteckender Antisemitismus

Die israelischen Forscher dokumentieren die Verbreitung von Verschwörungstheorien während der Pandemie, untersuchten aber auch die juristische Bewertung antisemitischer Straftaten und das Phänomen des »Antisemitismus ohne Juden«.

Steigende Zahlen verhießen während der Covid-19-Pandemie meist nichts Gutes. Weltweit hat sich auch der Antisemitismus im vergangenen Jahr stark ausgebreitet. Dies ist das Ergebnis einer am israelischen Gedenktag für die Opfer der Shoah, der dieses Jahr am 28. April stattfand, veröffentlichten Studie des Center for the Study of Contemporary European Jewry der Universität Tel Aviv, das Berichte von Medien und jüdischen Organisationen sowie Gerichtsurteile und Polizeimeldungen des Jahres 2021 auswertete. Dem Bericht ­zufolge ist das Anwachsen des Antisemitismus weltweit auf den Aufstieg der extremen Rechten und extremen Linken zurückzuführen und der gestiegenen Popularität ihrer Ansichten im Internet. Insbesondere die Verbreitung von Verschwörungstheorien während der Pandemie und die isra­elische Militäroperation »Guardian of the Walls« gegen die Hamas im Gazastreifen im Mai 2021 hätten zur Zunahme beigetragen.

Deutschland:  »Eine neue Form der Holocaust-Trivialisierung«

In zwei Ländern mit vergleichsweise vielen jüdischen Einwohnerinnen und Einwohnern blieben die Zahlen allerdings exakt wie 2020: Die russische Menschenrechts-NGO Sowa-Zentrum registrierte für das Jahr 2021 drei Fälle von antisemitisch motiviertem Vandalismus und eine Gewalttat. Diese Zahl sei »mindestens fragwürdig«, heißt es dazu in der Studie aus Israel, denn ­beispielsweise antisemitischer Content auf dem aus Russland kommenden ­sozialen Medium vk.com sei in die Statistik nicht eingeflossen. Auch in Brasilien sei die Zahl der antisemitischen Vorfälle gleichgeblieben – allerdings werden dort wie in Russland judenfeindliche Straftaten nicht gesondert erfasst.

Judenhass werde, wenn er islamisch begründet ist, aus Furcht vor der Ausbreitung rassistischer Vorbehalte gegen Muslime nur selten als solcher benannt, schreiben die Autoren des Berichts.

Das Kapitel über Deutschland ist mit »Eine neue Form der Holocaust-Trivialisierung« überschrieben und behandelt unter anderem die Reaktionen auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021. Innerhalb von 15 Tagen wurden damals 261 antisemitische Vorfälle registriert, meistens auf Demonstrationen gegen Israel, auf denen entsprechende Slogans gerufen, den Holocaust verharmlosende Bilder gezeigt und Jüdinnen und Juden angegriffen wurden. Außerdem waren Synagogen in Bonn, Düsseldorf und Münster von Demonstrierenden attackiert worden. Das Hauptaugenmerk des Berichts liegt allerdings auf den »Quer­denken«-Demonstrationen, die sich im Jahr 2021 von Kundgebungen mit nur wenigen Teilnehmenden im Raum Stuttgart zu deutschlandweiten Veranstaltungen mit Tausenden rechten wie linken Impfgegnerinnen und Impfgegnern entwickelten.

Weit interessanter, weil im deutschsprachigen Raum nicht so bekannt wie die antisemitischen Vor­fälle bei Demonstrationen von »Querdenkern« und Co., ist ein Kapitel, das sich mit dem Antisemitismus in Frankreich und Großbritannien und insbesondere der Rechtsprechung in beiden Ländern beschäftigt. In Frankreich hatte 2017 der Mord an der Jüdin Sarah Halimi Schlagzeilen gemacht. Der T­äter, ein 27 Jahre alter französischer Muslim namens Kobili Traoré, war in die Wohnung der 65jährigen eingedrungen, hatte sie unter Rufen wie »Allahu Akbar« brutal zusammengeschlagen und anschließend vom Balkon geworfen. 2020 entschied ein Gericht, dass der Mann sie zwar ermordet habe, aber nicht dafür belangt werden könne, weil er zum Tatzeitpunkt unter Drogeneinfluss gestanden habe und deshalb schuldunfähig gewesen sei. Traoré wurde in die Psychiatrie eingewiesen, wo er allerdings als psychisch stabil gilt. Seit 2003 waren in Frankreich insgesamt zwölf Juden und Jüdinnen ermordet worden, das Tatmotiv war immer Antisemitismus. Mindestens einer der jeweiligen Tatbeteiligten war Muslim. Judenhass sei gemäß französischem Recht zwar immer ein zu strengeren Strafen führendes Motiv für Hassverbrechen, werde aber, wenn er islamisch begründet wird, aus Furcht vor der Ausbreitung rassistischer Vorbehalte gegen Muslime nur selten als solcher benannt, schreiben die Autoren des Kapitels. Dadurch werde die muslimische Minderheit zwar geschützt, die zahlenmäßig wesentlich kleinere jüdische Minderheit jedoch des Schutzes ­beraubt. Aber auch das scheint sich zu ändern: Im November 2021 wurden die Mörder der 2018 erstochenen 85jährigen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll wegen Mordes beziehungsweise Diebstahls aus antisemitischen Motiven zu lebenslang respektive 15 Jahren Haft verurteilt. Der Haupttäter ist ein französischer Muslim.

Auch in Großbritannien wird Antisemitismus von Gerichten nicht länger verharmlost: Am 23. Juli wurde ein Urteil kassiert, wonach antizionistische Äußerungen während einer al-Quds-Demonstration 2017 nicht strafbar und nicht judenfeindlich seien. Der Beklagte habe sorgsam zwischen Juden und Zionisten unterschieden, hieß es im Urteil, aber Zionisten genau jene Machenschaften unterstellt, die, wenn sie Juden zugeschrieben werden, als Antisemitismus strafbar seien.

Der "Antise­mitismus ohne Juden"

Ein weiteres Augenmerk der Studie liegt auf dem sogenannten Antise­mitismus ohne Juden. 1981 prägte John Darnton, Journalist bei der New York Times, in seinen mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Reportagen über Kriegszustand und Aufstieg der Solidar­ność-Bewegung den Begriff »Polish riddle«, das polnische Rätsel vom »Antisemitismus ohne Juden«. Bis zum Einmarsch der Deutschen hatten in Polen rund 3,5 Millionen Jüdinnen und Juden gelebt, das waren ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Ungefähr 240 000 überlebten den Holocaust, der Großteil der jüdischen Bevölkerung wanderte allerdings aufgrund der im Jahr 1968 begonnenen und durch den Staat geförderten antisemitischen Kampagne der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) aus.

In den folgenden Jahren zeigte sich, dass die antisemitischen Grundeinstellungen völlig unabhängig von der Präsenz von Jüdinnen und Juden in ­Polen fortexistierten – ein Phänomen, das Giovanni Quer von der Universität Tel Aviv in seinem Kapitel »Pakistan: Antisemitism with few Jews« auch in Asien ausmacht. Unter dem britischen Raj (der britischen Kolonialherrschaft in Indien zwischen 1858 und 1947), so schreibt Quer, habe es »blühende jüdische Gemeinden« unter anderem in Karachi, Rawalpindi und Peshawar ­gegeben. Nach der Gründung Pakistans im Jahr 1947 kam es zu antisemitischen Pogromen islamistischer Mobs, die sich nach der Unabhängigkeitserklärung Israels häuften. Damals wurde die 1893 errichtete Synagoge Magain Shalom in Karachi angegriffen, in Brand gesteckt und zerstört. Heutzutage sind Schätzungen zufolge nur ­einige Dutzend der insgesamt 227 Mil­lionen Einwohner Pakistans jüdisch.

Wachsender Antisemitismus bei Muslimen in Pakistan

In Medienberichten und Reden ­dortiger Politiker werden antisemitische Vorurteile und Verschwörungsgeschichten insbesondere im Hinblick auf das Nachbarland Indien verbreitet, das seit 1992 diplomatische Beziehungen zu Israel unterhält. Das pakistanische Mi­litär warf 2006 beispielsweise über der von islamischen Stämmen beherrschten Region Waziristan Flugblätter ab, in denen vor Kräften gewarnt wurde, die mit »Yahood Aur Hanood« (Juden und Hindus) im Bunde seien. Premierminister Imran Khan wurde bis zum Ende seiner Amtszeit im April 2022 immer wieder beschuldigt, ein Agent Israels zu sein, weil der Groß­vater seiner ehemaligen Frau Jemima Goldsmith Jude war. Aber auch der Außenminister der Regierung Khan, Shah Mahmood Qureshi, machte mehrfach antisemitisch geprägte Anspielungen, zuletzt bei einem Interview mit CNN im Jahr 2021 – und hält interessanterweise das Ende dieser ­Regierung für ein Ränkespiel ausländischer Mächte.

Das Problem solcher ganz selbstverständlich gebrauchten judenfeindlichen Rhetorik ist Quer zufolge, dass ihr Einfluss weit über Pakistan hinausreiche: »Pakistanisch-islamische Vordenker und Ideologien beeinflussen asiatisch-muslimische Communities in Europa und den USA.« Der wachsende Antisemitismus bei Muslimen in Pakistan bedeute »entsprechend nichts ­Gutes für die Zukunft der interreligiösen Beziehungen im Westen«.