Der Dokumentarfilm »Freud über Freud« erzählt das Leben des Begründers der Psychoanalyse

Im Unterholz des Biographischen

Einen »konsequent Freud’schen Film« wollte der Filmemacher David Teboul machen. Sein Dokumentarfilm erzählt das Leben Sigmund Freuds mit Hilfe von Briefen und Schriften – nicht nur denen des Begründers der Psychoanalyse selbst.

Das Neue, das Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Medium Film in die Welt gekommen war, das wie kein anderes die Massenkultur des 20. Jahrhunderts geprägt hat, bestand Walter Benjamin zufolge nicht nur im apparativen, also notwendig durch die Kamera vermittelten Charakter der bewegten Bilder. Vielmehr sei es der Zugang, den der Film zur – wie Benjamin in einer eigentümlichen Metapher schreibt – »Merkwelt« biete, der eine fundamentale Umwälzung der historischen Wahrnehmungsweisen ermögliche. Der Film, so Ben­jamin in seinem Aufsatz über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, erlaube nämlich eine Isolation der Dinge, die vorher bloß »im breiten Strom mitschwammen«, und mache sie ­dadurch in einer besonderen Weise dem analytischen Blick zugänglich.

Darin sah Benjamin eine erhellende Parallele zur Psychoanalyse. Beide, Film und Psychoanalyse, seien eigentlich mit einer »anderen Natur« beschäftigt, die den bewusst wahr­genommenen Raum durchwirkt. Sigmund Freud hatte mit der »Psychopathologie des Alltagslebens« (1901) die oft unbemerkt geschehenden Versprecher, Fehlgriffe und Versehen als Indizien und Symptome unbewusster Vorgänge erschlossen. Der Film wiederum lenke die Aufmerksamkeit auf die sonst unsichtbaren Details alltäglicher Handlungen, beispielsweise das, was beim Griff nach dem Feuerzeug sich »zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt«. Im Gegensatz zum »Triebhaft-Unbewussten« in der Psychoanalyse nannte Benjamin dies das »Optisch-Unbewusste«.

Es ist die Montage, die Bildsprache in Kombination mit dem gesprochenen Wort, die den Dokumentarfilm zuweilen im psychoanalytischen Sinne unheimlich erscheinen lässt – also zugleich fremd und vertraut.

Benjamins Analogie ist freilich brüchig, wie überhaupt seine Hoffnung, der Film könne als Medium die Massen in progressiver Weise politisieren, auf einem marxistisch inspirierten kunsttheoretischen Fortschrittsdenken beruht. Was in Benjamins Vergleich in den Hintergrund rückt, für die psychoanalytische Annäherung an Fehlleistungen oder Träume aber unerlässlich ist, ist das Moment der Deutung, ohne die der Versprecher so stumm bleibt, wie es auch das vergrößerte Detail in der Nahaufnahme ist. Dennoch ist Benjamins Gedanke ein Hinweis auf eine nicht nur historisch bedingte Nähe zwischen Film und Psychoanalyse, die in der Folge vor allem in Bezug auf ­Kinoerfahrung und Traum diskutiert wurde. Die Dunkelheit des Kinosaals, in dem man mit einem Geschehen konfrontiert ist, in das man nicht eingreifen kann, gilt als dem Zustand des Schlafenden verwandt, einer Rückkehr in den vorgeburtlichen intrauterinen Zustand. Das Kino erscheint so als erlaubte, lustvoll besetzte Regression.

All diese Bezüge werden unweigerlich aufgerufen, wo sich Film und Psychoanalyse tatsächlich annähern, sei es in der psychoanalytischen Filmtheorie oder dort, wo sich der Film der Psychoanalyse widmet, wie zum Beispiel in einigen Filmen des sogenannten Film Noir, vor ­allem denen Alfred Hitchcocks. Es gilt aber ganz besonders für das dokumentarische Genre, dem im Gegensatz zum Fiktiven des Spielfilms die Aura des Echten und Authentischen eignet, mindestens die Erwartung eines Zugangs zur Wirklichkeit. Die Einsicht, dass dies trügerisch ist, liegt den Arbeiten des französischen Regisseurs David Teboul zugrunde, der sich in seinen Filmen unter anderem Brigitte Bardot und Simone Veil gewidmet hat und dessen Dokumentarfilm »Freud über Freud« am 5. Mai in den deutschen Kinos anläuft. Der Film ist indes nicht ganz neu; bereits 2019 erschien er in einer früheren Version mit dem zweifelhaften Titel »Freud intim«, ein Jahr später als »Sigmund Freud. Jude ohne Gott«. Dennoch lohnt ein erneuter Blick auf Tebouls Auseinandersetzung mit Freud, nicht zuletzt aufgrund der Aussage des Regisseurs, er habe einen »konsequent Freud’schen Film« machen wollen.

Tebouls Film wirkt zunächst geradezu wie eine klassische sich um historische Figuren drehende Dokumentation. Chronologisch folgt er dem Leben von Sigismund Schlomo Freud von dessen Geburt 1856 in Freiberg in Mähren, über seine ersten, noch stark naturwissenschaftlich ambi­tionierten Auseinandersetzungen mit der Psychologie seiner Zeit im Umfeld von Jean Martin Charcot, die Genese der Psychoanalyse im habsburgischen Wien um die Jahrhundertwende, verschiedene Allianzen und Zerwürfnisse – unter anderem mit Wilhelm Fließ und Carl Gustav Jung –, die Auseinandersetzung mit den Massenschlachten des Ersten Weltkriegs bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus und schließlich Freuds Tod im Londoner Exil 1939. Das sowohl am Anfang wie am Ende thematisierte Verhältnis Freuds zum Judentum bietet so etwas wie einen inhaltlichen Rahmen.

Dabei hält sich die Dokumentation streng an Archivmaterial. Bis auf ­wenige Ausnahmen, in denen ein Erzähler sich kontextualisierend äußert, wird das gesamte Leben Freuds aus Briefen und anderen Schriften dargestellt – und zwar nicht nur seinen eigenen, sondern auch denen anderer. Neben den bereits genannten Fließ und Jung kommen auch Lou Andreas-Salomé und Marie Bonaparte zu Wort. Sorgt bereits diese Entscheidung für eine – um einen von Jean Laplanche auf die Psychoanalyse gemünzten Begriff aufzunehmen – Dezentrierung des Individuums Freud, erweist sich auch der Titel »Freud über Freud« als doppelbödig. Denn es ist, bei Lichte betrachtet, nicht ein Freud, Sigmund, der hier spricht, sondern es sind zwei, nämlich zusätzlich die jüngste Tochter Anna, die bereits früh als Kommentatorin eingeführt wird. Darin wiederholt sich die historische Rolle Anna Freuds, die sich insbesondere nach dem Tod ihres Vaters mit aller Kraft der Verbreitung der Psychoanalyse widmete. Ihr eigener Beitrag zur psychoanalytischen Theoriebildung, vor allem bei der Entstehung der Kinderanalyse, tritt dadurch in den Hintergrund. Unverkennbar ist durchweg die Konzentration auf Freud als Mensch und Denker statt auf den Gehalt der Psychoanalyse.

Es ist die Montage, die Bildsprache in Kombination mit dem gesprochenen Wort, die den Dokumentarfilm zuweilen im psychoanalytischen Sinne unheimlich erscheinen lässt – also zugleich fremd und vertraut. Teboul unterlegt die erzählte Lebensgeschichte mit zweierlei Bildern: zum einen Archivbildern, wobei es sich sowohl um Originalaufnahmen als auch um historische Filmszenen handelt (beispielsweise aus Hans Karl Breslauers »Stadt ohne Juden« aus dem Jahr 1924), zum anderen von Teboul selbst mit einer Super-8-Kamera gedrehten Aufnahmen von Orten, an denen sich Freud aufgehalten hat oder haben könnte. Die Filmszenen sind dabei häufig weit mehr als bloße Bebilderung, sie werden zum deutenden Kommentar. Zur Erzählung vom Zerwürfnis mit Fließ werden Bilder einer Kneipenschlägerei eingeblendet; die enge Bindung der beiden mit versetzt im Splitscreen gezeigten Szenen aus »Le mystère des roches de Kador« (1912) verbunden, in dem die noch junge Technik der Psychoanalyse zur Erinnerung an ein verdrängtes Trauma thematisiert wird.

Tebouls eigene Aufnahmen wiederum – körnig, schwarzweiß, manchmal verlangsamt oder verschwommen – schieben sich gleichsam ­zwischen das Dokumentarische und tragen zuweilen geradezu sym­bolistischen Charakter: Bilder eines Walds und dessen dichten Unter­holzes gleich zu Beginn des Films, immer wieder Aufnahmen vom Auf- und Abstieg eines Bergsteigers.

Bereits in früheren Filmen hat Teboul mit ähnlichen Mitteln den Authentizitätseffekt der Dokumen­tation aufgebrochen und die Figuren, wie er selbst sagt, fiktionalisiert. Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Dokumentarischem, Inszeniertem und Erinnertem (das niemals mit dem Erlebten zusammenfällt) macht den unheimlichen Charakter von »Freud über Freud« aus, der den Film auch für jene sehenswert macht, die mit dem Leben Freuds und mit der Psychoanalyse bereits vertraut sind. Viel mehr als im ­Verfahren der freien Assoziation, das der Regisseur sowohl für die Komposition des Films als auch für die intendierte Rezeption reklamiert, liegt in dieser Fiktionalisierung des Dokumentarischen die psychoanalytische Qualität von David Tebouls Film.

David Teboul: Freud über Freud. (FR/AT 2020). Buch: David Teboul und François Prodromidès. Regie: David Teboul. Sprecher: Birgit Minichmayr, Johannes Silberschneider. Kinostart: 5.Mai