Die EU fragt sich, wie es mit ihrer Grenzschutzagentur Frontex weitergehen soll

Zurückschieben oder raushalten

Nach dem Rücktritt des Frontex-Direktors Fabrice Leggeri Ende April wird gerätselt, wie es mit der EU-Grenzschutz­agentur weitergehen soll. Die EU-Staaten sind uneins über das Maß der anzustrebenden Abschottung.
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Für Frontex lief es lange blendend. Jahrelang wurde die EU-Grenzschutzagentur mit immer mehr Ressourcen und immer größeren Kompetenzen ausgestattet. Seit einiger Zeit darf sie sich etwa in mehreren südosteuropäischen Staaten benehmen, als gehörten diese bereits zur EU: Montenegro, Albanien und Serbien gewährten Frontex gewisse Hoheitsrechte. Die EU-Grenzschützer dürfen dort eigenmächtig patrouillieren, kontrollieren und Migrantinnen und Flüchtlinge auf dem Weg Richtung EU nach eigenem Gutdünken abschieben. Mit Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina wird über gleichlautende Arrangements verhandelt.

Zuletzt aber musste die Agentur auf ihrem Weg zur supranationalen EU-Grenzpolizei mit einer 10 000 Köpfe starken stehenden Truppe (»Standing Corps«) – so viele sollen es bis 2027 werden – Rückschläge hinnehmen. Der Direktor Fabrice Leggeri reichte Ende April nach sieben Jahren im Amt seinen Rücktritt ein.

Vor dem Verwaltungsrat von Frontex, dem der deutsche Bundespolizist Alexander Fritsch vorsteht, begründete er dies abenteuerlich: Er gebe sein Amt zurück, »da das Frontex-Mandat, für das ich gewählt wurde und das im Juni 2019 verlängert wurde, anscheinend stillschweigend, aber effektiv geändert wurde.« Leggeri klagte, Frontex solle »zu einer Menschenrechtsorganisation« umgebaut werden, was nicht dem Mandat entspreche.

Tatsächlich ist das Mandat geblieben, wie es war. Frontex und namentlich Leggeri hatten vielmehr über die massenhafte Beteiligung an und Tolerierung von gewaltsamen, illegalen Pushbacks in der Ägäis gelogen, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) ermittelt. Zuletzt berichtete der Spiegel über frisierte Einträge in einer internen Frontex-Datenbank namens Jora. Darin wurden Frontex-Einsätze gegen Flüchtlingsboote in der Ägäis falsch verortet. Diese hatten sich in griechischen Hoheitsgewässern abgespielt – in der Datenbank wurden sie aber türkischen Gewässern zugeordnet, um nicht als Pushbacks erkennbar zu sein.

Kommissarisch leitet nun die Lettin Aija Kalnaja Frontex, die dienstälteste der drei stellvertretenden Geschäftsführerinnen und -führern. Die Frage ist, was aus der Agentur werden soll. Denn in den vergan­genen Jahren zeigte sich, dass einige der EU-Mitgliedstaaten, die selbst rabiat gegen Ankommende vorgehen, Frontex nicht dabei haben wollten. Zum Beispiel Kroatien, aber auch Polen nahmen zuletzt völlig ungeniert und systematisch gewaltsame Pushbacks vor. Gleichzeitig weigerten die beiden Staaten sich, Frontex-Einheiten auf ihrem Territorium zuzulassen. Einer der Gründe dafür: Sie befürchteten, Frontex könne die offene Zurückschieberei zu weit gehen. Schließlich ist die Agentur dem EU-Parlament letztlich Rechenschaft schuldig.

Dahinter steht die Frage, was die EU an den Außengrenzen genau will. In ihrem 2020 mit Aplomb vorgestellten »Migrationspakt« sind – von Deutschland entworfene – Schnellverfahrenslager für Vorab-Asylprüfungen vorgesehen. Der Pakt ist bislang nicht in Kraft getreten, weil einige der EU-Staaten, darunter Polen und Ungarn, nicht mitziehen. Sie wollen schlichtweg alle ab- oder zurückschieben, die irregulär ankommen, und folglich nicht einmal Schnellverfahren zulassen. Geht es nach ihnen, soll Frontex bei dieser ­Totalabschottung mitmachen – oder sich raushalten.

Anderen EU-Mitgliedern und vor allem dem EU-Parlament geht das zu weit, was sich auch daran zeigte, dass Leggeri wegen der Beteiligung an den Pushbacks in der Ägäis und deren Vertuschung gehen musste. Solange dieser Dissens nicht geklärt ist, wird Front­ex wohl so weitermachen wie bisher.