In der kolumbianischen Provinz Cauca setzen viele ihre Hoffnung in das linke Wahlbündnis Historischer Pakt

Aufbruch im Cauca

In Kolumbiens Provinz Cauca gelten viele Gemeinden wegen bewaffneter Konflikte als Hochrisikozonen. Um Frieden und Entwicklungsperspektiven zu schaffen, setzen viele indigene und afrokolumbianische Einwohner vor der Präsidentschaftswahl ihre Hoffnung in das linke Bündnis Pacto Histórico. Dessen Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Márquez kommt aus dem Cauca.
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Das Transparent mit dem Konterfei von Francia Márquez ist quer über die Straße im Stadtteil Bolivariano in der Gemeinde Santander de Quilichao gespannt. »Pacto Histórico« steht hinter dem Bild der afrokolumbianischen Frau, die entschlossen die Faust ballt. Márquez ist die Vizepräsidentschaftskandidatin des linken Bündnisses Pacto Histórico »Colombia Puede« (Historischer Pakt »Kolumbien kann (es)«) für die Präsidentschaftswahl am 29. Mai; Präsidentschaftskandidat des Bündnisses ist Gustavo Petro.

Oveimar Tenorio gefällt die kämpferische Geste Márquez‘ auf dem Transparent. Der drahtige Mann mit blauer Weste steht nur ein paar Meter unterhalb des Transparents vor einem Bürogebäude der Asociación de Cabildos Indígenas del Norte del Cauca (Verband der indigenen Räte des Nord-Cauca, Acin) am Ortsausgang von Santander de Quilichao. »Der Pacto Histórico ist bei der Präsidentschaftswahl meine Partei, sie steht für den Wandel«, sagt er. Seine blaue Weste weist ihn als Mitglied der Guardia Indígena (Indigene Wache) aus. So nennt sich die Einheit der friedlichen Konfliktlöserinnen und -löser, die im Norden des kolumbianischen Verwaltungsbezirks Cauca 2001 gegründet wurde, um indigene Territorien und Leben zu schützen.

»15 Morde an indigenen Repräsentantinnen und Repräsentanten seit Jahresbeginn sind mehr als nur ein Alarmsignal.« Oveimar Tenorio, Koordinator Guardia Indígena

Der 28jährige Tenorio ist Koordinator der unbewaffnet agierenden Truppe, die indigene Anführerinnen und Anführer beschützt, bei Demonstrationen für Ordnung sorgt, aber auch schon Entführungsopfer befreit hat. Derzeit ist die Situation im Norden des Cauca wieder einmal extrem angespannt. »Erst am 18. März haben wir mit José Miller Correa einen unserer Anführer beerdigt. Er wurde in der Nähe von Popayán, der Hauptstadt des Cauca, von Auftragskillern ermordet«, berichtet Tenorio.

Miller Correa gehörte zu den gut ausgebildeten indigenen Repräsentanten, die auch Fidel Martínez gut kannte. Dieser ist als Direktor der Entwicklungsorganisation Tierra de Paz (Erde des Friedens) regelmäßig nördlich von Santander de Quilichao unterwegs, um sowohl indigene als auch afrokolumbianische Aktivistinnen und Aktivisten mit seinem Team weiterzubilden. Heute schaut er kurz bei der Acin in Santander de Quilichao vorbei. »Wir bieten Schulungen an, deren Ziel es ist, die Organisationsstrukturen zu verbessern, intern besser und effektiver zu kommunizieren, aber auch, sich selbst besser zu schützen«, erklärt Martínez, nachdem er seinen Wagen geparkt und die beiden Männer vor dem Eingang der Acin-Zentrale begrüßt hat. Die Organisation repräsentiert die 22 indigenen Territorien im Norden des Cauca. Die Landflächen gehören ausnahmslos der indigenen Gruppe der Nasa, mit 200 000 Menschen die zweitgrößte indigene Bevölkerungsgruppe Kolumbiens.

Auch Oveimar Tenorio ist Nasa und hat ein Büro in dem modernen, viergeschossigen Acin-Gebäude. Dort ist viel los, Dutzende von Mopeds und Motorrädern stehen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude. An dessen Eingang erinnert ein Plakat an Miller Correa. Neben einem Empfangstresen gehen Türen zu einem Konferenzraum und Büros ab. Links führt eine breite Treppe in den ersten Stock, wo Tenorios Schreibtisch in einem Großraumbüro steht. »Defensa de la vida« (Verteidigung des Lebens) steht an der Bürotür, gegenüber haben die Kollegen von der Abteilung »Gerechtigkeit und Leben« ihr Büro, die sich um alles Juristische kümmern, den Gang weiter unten sind die Abteilungen für Gesundheit und die für Frauen und Familie untergebracht. »In insgesamt sieben Abteilungen haben wir unsere Arbeit strukturiert«, erklärt Tenorio. »Über uns sind die Radiostudios der Abteilung für Kommunikation angesiedelt, wo auch unsere Presseerklärungen verfasst werden.«

Gefährliche Arbeit
Eine der jüngsten Presserklärungen verurteilt den Mord an Miller Correa. Die Vielzahl an Gewalttaten derzeit im Cauca, die insbesondere indigene Vertreterinnen und Vertreter treffen, beschäftigt die ganze Acin-Zentrale. »15 Morde an indigenen Repräsentantinnen und Repräsentanten seit Jahresbeginn sind mehr als nur ein Alarmsignal«, sagt Tenorio. Er ist als Koordinator der Guardia Indígena für die Sicherheit der indigenen Autoritäten der Nasa verantwortlich und führt die gezielten Morde unter anderem auf den Unwillen der kolumbianischen Regierung unter Präsident Iván Duque zurück, das Friedensabkommen mit der Guerilla Farc umzusetzen. Zum Wiederaufflackern des Kriegs im Cauca gehöre aber auch die Rekrutierung junger Männer für bewaffnete Gruppen in Corinto, Toribío, Jambaló und anderen Gemeinden. Sie alle liegen in der sogenannten roten Zone, gelten also gemäß der Kategorisierung, die Kolumbien je nach Ausmaß der gewalttätigen Konflikte in verschiedenfarbige Zonen einteilt, als Hochrisikozonen. Im Norden des Cauca, den die Anden durchziehen und in dem Gebiete oft schwer zu erreichen sind, kämpfen die Armee, kriminelle Banden, paramilitärische Gruppen, aber auch ehemalige Guerilleros um die Kontrolle.

Fidel Martínez will gleich in eine dieser roten Zonen fahren. An dem schneeweißen Pickup, mit dem er dorthin unterwegs ist, sind eine weiße Flagge und Aufkleber angebracht, die ein rot durchgestrichenes Maschinengewehr zeigen. Die Symbole sollen ihn vor Angriffen schützen; bisher haben sie ihren Zweck erfüllt. Zudem meldet Martínez bei allen lokalen Akteuren seine heutige Visite im Dorf El Palo und die Route hin und zurück an: dem Militär, der Polizei, der Guardia Indígena und über informelle Kanäle auch den illegalen bewaffneten Gruppen. Details über dieses Procedere behält er lieber für sich, trinkt seinen letzten Schluck Kaffee aus, verabschiedet sich und drängt zum Aufbruch. »In einer guten Stunde müssen wir in der Schule La Playa im Dorf El Palo sein.«

Die Schule liegt auf dem Weg nach Toribío, wo gleich zwei Kolonnen dissidenter Farc-Rebellen präsent sind. Eine, die Columna Móvil Dagoberto Ramos (Mobile Kolonne Dagoberto Ramos), hat auf der holprigen Piste nach Toribío auf halber Strecke Transparente zu Ehren von Manuel Marulanda gehisst. Martínez ist überrascht: »Oh, das habe ich vollkommen vergessen. Heute ist der Todestag des Farc-Gründers. Deshalb zeigen die dissidenten Guerilleros Präsenz.« Damit meint er diejenigen, die das Friedensabkommen ablehnen. Manuel Marulanda hieß eigentlich Pedro Antonio Marín Marín, er gründete 1964 zusammen mit Luis Alberto Morantes Jaimes (alias Jacobo Arenas) die Guerillaorganisation und war bis zu seinem Tod 2008 einer ihrer Anführer.

Lernen unter permanenter Bedrohung
Wenig später erreicht der Jeep La Playa (der Strand), die Schule in El Palo. »Zona Escolar« (Schulzone) steht auf einem großen Schild gegenüber vom Eingang der Schule. Darunter ist in einem roten Kreis ein Maschinengewehr zu sehen, das mit einem dicken roten Balken durchgestrichen ist. »No Armas« (keine Waffen) steht in dicken Lettern darunter. »Notwendige Vorkehrungen«, meint der Schuldirektor Hernán Chocué mit einem entschuldigenden Schulterzucken, als er die Besucher in Empfang nimmt.

Die Hilfsgelder der evangelischen »Dia­konie Katastrophenhilfe« aus Deutschland sorgen dafür, dass die Menschen aus der Region Toribío hier das Abitur nachholen können, erklärt Martínez. Alle Lehrkräfte und nahezu alle Schülerinnen und Schüler sind Nasa, darunter auch Francisco Dagua*, ein kräftiger Mann von Ende 20, der die Besucher genauso neugierig mustert wie der Rest seiner Klasse. Die schreibt in diesem Jahr ihr Abitur, die Prüfungen stehen in ein paar Monaten an. »Die Chance, das Abitur nachzuholen, habe ich sofort ergriffen, um meinen Traum vom eigenen Unternehmen zu verwirklichen. Dazu will ich etwas mit Wirtschaft studieren«, sagt Dagua. Unter seinem kleinen Schulpult lugen seine groben Gummistiefel hervor, so wie bei etlichen Schülerinnen und Schülern der Klasse.

»Der Pacto ist für mich so glaubwürdig, weil die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Francia Márquez, aus dem Cauca stammt– aus Suárez und von unten.« Nancy Velasco, Abiturientin

Festes Schuhwerk ist unverzichtbar, denn die Straßen in der Gegend sind in aller Regel Lehmpisten, die bei Regen zu schmierigen Rutschbahnen werden. Das ist derzeit oft der Fall. Dabei hätte es schon längst bessere Straßen geben sollen, denn im Friedensvertrag zwischen der Regierung und den Farc vom November 2016 ist eindeutig festgehalten, dass gerade in den Konfliktregionen kräftig in Infrastruktur, Bildung und Entwicklungsprogramme investiert werden soll. Der Cauca gehört dazu, doch an Ort und Stelle ist davon wenig zu sehen. Das trägt dazu bei, dass der Krieg zurückgekehrt ist. »Nur ein paar Monate war es ruhig. Da konnte man sich frei bewegen«, erinnert sich Dagua, ein Sohn einfacher Bauern. Seine Eltern konnten sich den Schulbesuch für alle ihrer sechs Kinder schlicht nicht leisten, und so musste er als Ältester auf dem Feld mithelfen.

Nun will er sein Abitur nachholen und dem eigenen Sohn ein Vorbild sein. Allerdings haben seine Hoffnungen längst einen Dämpfer erhalten. »Hier gehen alle wieder in Deckung. Die Straßensperren von Armee, Guerilla und auch paramilitärischen Gruppen sind wieder zurück und mit ihnen die Gefechte«, erzählt er freimütig. Zwei Mitschüler, Nancy Velasco* und Jairo Umenzu*, nicken zustimmend, äußern sich aber erst, nachdem ihnen Anonymität zugesichert wurde. »Sonst rupfen sie uns«, warnt Umenzu mit ernster Mine.

»Sie«, das können Bewaffnete aller Gruppen in der Region sein. Für die ist die Region attraktiv, denn die Geländeform und das Klima begünstigen den Anbau von Marihuana und Kokasträuchern, deren Blätter zu Kokain verarbeitet werden. Die zerklüfteten Berge mit den tiefen Taleinschnitten seien kaum zu kontrollieren. Längst habe sich die Produktion ­professionalisiert, bestätigt der Rektor Chocué später vor versammeltem Kollegium.

Dass die illegale Ware die Region trotz starker militärischer Präsenz verlässt, hängt mit der weitverbreiteten Korruption zusammen. Das traut sich jedoch kaum jemand auszusprechen. Ein Grund, weshalb viele Schü­lerinnen und Schüler für einen politischen Wandel im Land plädieren. »Der Pacto Histórico mit dem Präsidentschaftskandidaten Gustavo ­Petro steht für eine bessere Bildung, sozia­le Investitionen und die Unterstützung der armen Bevölkerungsschichten – er ist mein Kandidat«, sagt ­Umenzu. Velasco ergänzt: »Der Pacto ist für mich so glaubwürdig, weil die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Francia Márquez, aus dem Cauca stammt – aus Suárez und von ­unten.«

 

Ein Mahnmal

»Sie haben uns so viel genommen, dass sie uns die Angst genommen haben.« Ein Mahnmal

Bild:
Knut Henkel

Francia Márquez als Vorbild
Suárez steht an diesem Tag auch noch auf dem Programm von Fidel Martínez. Nahe der Kleinstadt an der Salvajina-Talsperre läuft bereits ein Fortbildungskurs für den lokalen politischen Nachwuchs, den Martínez’ Kollegin Marta Victoria leitet. »In der Region ist die Bevölkerungsmehrheit afrokolumbianischer Herkunft. Sie haben begonnen, sich ähnlich wie die indigene Bevölkerung zu organisieren, und Francia Márquez ist dafür das derzeit populärste Beispiel«, sagt Martínez und schaut auf die Uhr. Die Gespräche mit dem Rektor Chocué über die anstehenden Abiturprüfungen sind beendet, die Schülerinnen und Schüler wieder im Unterricht, also geht es zurück zum weißen Pickup.

Eine Stunde dauert die Fahrt durch die Berge, an Kleinstädten wie Toribío und Caloto vorbei, bis die Ebene mit den weitläufigen Zuckerrohrplantagen erreicht ist. Die schlechten Straßenverhältnisse sorgen dafür, dass sich die Fahrzeit für die rund 80 Kilometer Strecke hinzieht. Der Jeep passiert Buenos Aires mit den Eukalyptusplantagen für die Papierproduktion, bevor das Ortsschild Suárez auftaucht. Die kleine Stadt liegt direkt an einem mächtigen Staudamm. »Er wurde 1985 eingeweiht, aber ohne die Beteiligung der lokalen Bevölkerung gebaut, sie wurde vertrieben und nie entschädigt«, erzählt Martínez. Dann lenkt er den Wagen am Staudamm vorbei zu einem Freizeit-Camp. »Hier findet heute unser Kurs mit lokalen Aktivistinnen statt. Sie erwarten uns«, sagt er und steuert den Wagen auf den Parkplatz.

Gegenüber befindet sich das Tagungszentrum, wo eine Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit der Kursleiterin in der Dämmerung sitzt und über die Situation an Ort und Stelle diskutiert. Die ist schwierig. Es sind vor allen paramilitärische Gruppen, die den lokalen Kokaanbau und zum Teil auch die Förderung von Gold kontrollieren. »Das wird in kleinen Minen rund um den Stausee gewonnen. Das hat Tradition. Landwirtschaft und die Goldförderung sind die Eckpfeiler der lokalen Ökonomie«, sagt Juan David Carabalí, ein junger Afrokolumbianer. Er stammt aus einem der Dörfer in der Umgebung. »Dort drüben auf der anderen Seite des Stausees, in Yolombó, ist Francia Márquez aufgewachsen. Sie ist für uns ein Vorbild«, sagt er im Brustton der Überzeugung. Für ihn und die Runde von 21 Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern, die wegen der Risiken ausdrücklich nicht fotografiert werden wollen, habe die Anwältin und Umweltschützerin Márquez Anteil daran, dass die Wahlbeteiligung im Cauca bereits bei den Parlamentswahlen am 13. März über dem nationalen Durchschnitt lag. Im Cauca wurde der Pacto Histórico mit 35 Prozent der Stimmen die stärkste Partei.

Auch afrokolumbianische Gemeinden haben eigene Strukturen aufgebaut, zu denen die Guardia Cimarrona gehört. Als cimarrones (cimarrón heißt eigentlich »entlaufenes Haustier«) wurden in Kolumbien entlaufene Sklaven bezeichnet, die oftmals Wehrdörfer aufbauten. »Auf diese Tradition berufen wir uns und versuchen, unsere Dörfer und kollektiven Landtitel friedlich zu schützen«, sagt Reinier, der seinen Nachnamen lieber für sich behalten will. Die Gruppe, der er angehört, hat sich dank der Hilfe der Entwicklungsorganisation Tierra de Paz vernetzt und bereitet Initiativen vor, um den Quecksilbereinsatz in den nahen Goldminen zu reduzieren. Sie hofft, nach der Präsidentschaftswahl dabei von einer linken Regierung unterstützt zu werden.

Die neue Regierung werde anders als die alte auch in den Regionen aktiv werden, lautet die große Hoffnung. Doch dafür müsste am 29. Mai erst einmal der Pacto Histórico im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erzielen. Im Cauca könnte das klappen, meint Martínez. Für die Landesebene ist er sich da nicht so sicher. Seine Rückreise nach Popayán am Tag darauf verlief alles andere als nach Plan. Eine Schlammlawine sorgte dafür, dass die Straße stundenlang unpassierbar war – im Cauca nicht ungewöhnlich.

* Name von der Redaktion geändert.