Über 2 400 ukrainische Soldaten aus dem umkämpften Stahlwerk Asowstal sind nun Gefangene Russlands

Gefangene Russlands

Die ukrainischen Soldaten im wochenlang umkämpften Stahlwerk Asowstal in Mariupol haben die Waffen niedergelegt und sich in russische Kriegsgefangenschaft begeben. Was mit ihnen geschehen soll, ist unklar. Russische Hardliner fordern harte Strafen für die Soldaten.

Mitte Mai ging der erste Akt eines Dramas zu Ende, das die internationale Öffentlichkeit seit etlichen Wochen in Atem gehalten hatte. Schauplatz war Asowstal, eines der größten Hüttenwerke Europas, das sich inmitten der lange heftig umkämpften und inzwischen weitgehend zerstörten ukrainischen Hafenstadt Mariupol befindet. Dort hatten sowohl Bürgerinnen und Bürger der Stadt Zuflucht gefunden als auch ukrainische Soldaten – und harrten ohne sauberes Trinkwasser und mit extrem knappen Nahrungsmittelvorräten aus. Während der russischen Belagerung konnten immer wieder kleinere Gruppen von Zivilisten den weitläufigen, bunkerartigen Gebäudekomplex verlassen; die Angehörigen der Armeeeinheit, die unter anderem unter dem Kommando des rechtsextremen ukrainischen Regiments Asow standen, hielten bis zuletzt die Stellung. Als Anführer wurden namentlich genannt der Asow-Kommandeur Denys Prokopenko, sein Stellvertreter Swjatoslaw Palamar und der Kommandeur einer Einheit der 36. Brigade der Marineinfanterie, Sergej Wolynskyj. Bis zur kompletten Räumung am Freitagabend vergangener Woche verließen nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums insgesamt 2 439 Kämpfer das Areal, darunter mehrere Dutzend Verletzte und 78 Frauen.

Leonid Sluzkij von der Liberal-Demokratischen Partei forderte, das in Russland geltende Moratorium bei der Todesstrafe in Ausnahmefällen außer Kraft zu setzen.

Länger durchgehalten hätten sie vermutlich ohnehin nicht mehr. Der ukrainische Generalstab gab bekannt, die Soldaten hätten ihre Aufgabe erfüllt. Die Kämpfe um Asowstal banden russische Truppen. So sei es gelungen, ukrainische Truppenverlegungen in größerem Umfang vorzunehmen, die unter anderem eine schnelle Einnahme von Saporischschja durch die russischen Angreifer verhindert hätten, so der Generalstab.

Der Kommandeur der Einheit in Asowstal, Denys Prokopenko, behauptete, »die oberste militärische Führung« habe den Befehl zur Niederlegung der Waffen gegeben. Da die Vereinten Na­tionen und das Internationale Rote Kreuz als Garanten für die Unversehrtheit der ukrainischen Soldaten auftraten, ließ sich die ukrainische Seite nun auf deren Überstellung auf russisches Gebiet ein. Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm dazu folgendermaßen Stellung: »Ich möchte betonen, dass die Ukraine die ukrainischen Helden lebend braucht. Das ist ist unser Prinzip.« Seine Regierung erhofft sich einen Gefangenenaustausch, am liebsten über ein Drittland wie die Türkei.

Diesbezügliche Absprachen stehen indes noch aus, Russland garantierte lediglich einen »humanen Umgang« und die Einhaltung international gültiger Rechtsnormen. Das russische Staatsfernsehen führte völlig erschöpfte Soldaten vor, die sich für die gute Behandlung und Verpflegung in russischer Kriegsgefangenschaft bedankten. Petro Andrjuschtschenko, ein Mitglied des Stadtrats und Berater des Bürgermeisters von Mariupol, hatte kürzlich die Zustände im russisch besetzten ukrainischen Ort Oleniwka, wohin ein Teil der Gefangenen gebracht worden war, in drastischen Worten geschildert und von einem Konzentrationslager gesprochen; tatsächlich befindet sich dort ein ehemaliges Straflager aus sowjetischen Zeiten, in das die Ukrainer gebracht wurden.

Russischen Hardlinern bot sich mit der Gefangenennahme endlich die ersehnte Gelegenheit zu triumphieren. Während die New York Times über eine »Evakuierung« berichtete, sprach Russlands Vertreter bei den Vereinten Nationen von einer »bedingungslose Kapitulation«. Mit militärischen Mitteln war es Russland trotz großen Aufwands nicht gelungen, Asowstal einzunehmen, nun verwandelt die russische Propaganda die Niederlage in einen Sieg. Denis Puschilin, der Präsident der sogenannten Donezker Volksrepublik, in dessen Zuständigkeitsbereich Mariupol durch die russische Besetzung fällt, verkündete, das von Russland schwer zerstörte Asow-Stahlwerk solle komplett abgerissen werden, um an der Stelle eine Parklandschaft entstehen zu lassen oder einen Technologiepark zu errichten. Ein anderes Metallurgieunternehmen in der Donezker Volksrepublik solle hingegen wiederaufgebaut werden – das aber dürfte noch lange auf sich warten lassen.

Was erwartet die ukrainischen Soldaten in russischer Gefangenschaft? Geht es nach der Meinung derjenigen, die sich dazu in der Duma zu Wort gemeldet haben, könnte es viele Jahre dauern, bis sie wieder nach Hause dürfen. Anatolij Wasserman, ein in Odessa geborener Parlamentsabgeordneter der Partei Gerechtes Russland und gerngesehener Gast in politischen Talkshows, plädierte dafür, »Naziverbrecher« per Gesetz vom Gefangenenaustausch auszuschließen. Der Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin von der Partei Einiges Russland pflichtete ihm bei, da diese Kategorie von Kriegsgefangenen vor ein Tribunal gehöre. Ohnehin ist das Regiment Asow in Russland bereits als extremistische Organisation eingestuft, weshalb allein die Zugehörigkeit zu ihm einen Straftatbestand darstellt. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat beim Oberste Gericht gar beantragt, das Regiments künftig als Terrorgruppe einzustufen. Eine Entscheidung wird für den 26. Mai erwartet.

Leonid Sluzkij von der Liberal-Demokratischen Partei (LDPR), bekannt für seine skandalträchtigen Aussagen und die sexuelle Belästigung von Journalistinnen, setzte noch eins drauf: Er forderte, das in Russland geltende Moratorium bei der Todesstrafe in Ausnahmefällen außer Kraft zu setzen. Einem Gericht solle die Möglichkeit gegeben sein, die Höchststrafe gegen Personen anzuwenden, die sich durch Verbrechen gegen die Menschheit schuldig gemacht hätten. Politische Schauprozesse wären damit programmiert. Je nach Zielsetzung der Ankläger würde die Vorbereitung eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, zumindest wenn es dar­um gehen sollte, angebliche größere Zusammenhänge aufzudecken und beispielsweise das Thema einer direkten Verbindung zwischen den ukrainischen Asow-Angehörigen und vermeintlichen Auftraggebern aus Nato-Staaten vor Gericht zu verhandeln. Die derzeitigen Entwicklungen deuten darauf hin, dass jede noch so absurde Anschuldigung vorstellbar ist.

In von russischen Truppen besetzten ukrainischen Gebieten bemüht man sich derweil nach Kräften, neue Zivilverwaltungen genehmer Leitung zu etablieren. Dafür stützt man sich meist auf Personen, die zuvor in prorussischen Parteien engagiert waren, wie der ehemaligen Partei der Regionen oder der »Oppositionsplattform – Für das Leben«, deren Tätigkeit untersagt wurde, solange das Kriegsrecht in der Ukraine gilt (Jungle World 13/2022). Auch soll der russische Rubel auf dem von Russland kontrolliertem Territorium so schnell wie möglich als Währung eingeführt werden.

Einen Sonderfall stellt die Stadt Cherson mit knapp 300 000 Einwohnern dar, deren Gebiet an die Krim grenzt und Russland den Zugang zu der annektierten Halbinsel auf dem Landweg ermöglicht. Hier hatte die russische Armee leichtes Spiel, da sich die Stadt schon zu Beginn des Kriegs praktisch ohne Kampfhandlungen ergab. Als Regionalverwalter setzte Russland Wolodymyr Saldo ein, von 2002 bis 2012 und nochmals 2014/2015 Bürgermeister von Cherson. Die ukrainische Staatssicherheit SBU verdächtigte Saldo, mit dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB zu kooperieren. Außerdem war er in eine dubiose Entführungsgeschichte in der Dominikanischen Republik verwickelt.

Seit Mitte April kursieren Gerüchte über eine baldige Ausrufung einer »Volksrepublik Cherson« nach dem Vorbild von Donezk und Luhansk. Zunächst wurde sogar für April ein Referendum erwartet, dann für Anfang Mai. Doch bislang zeichnet sich keine klare Linie ab. Selbst Saldo hatte sich gegen ein Referendum ausgesprochen. Ein weiterer Vertreter aus dem Verwaltungsapparat kündigte an, sich direkt an Russlands Präsidenten Wladimir Putin zu wenden mit der Bitte um eine Eingliederung Chersons in die Russische Föderation. Dafür müssten nach russischem Recht erst entsprechende Voraussetzungen erfüllt werden. Walentina Matwijenko, die Vorsitzende des russischen Föderationsrats, äußerte sich eher zurückhaltend. Über den künftigen Status von Cherson könnten einzig und allein die Bewohner selbst entscheiden. Russland werde sich ihrem Votum anschließen.

Derweil intensivieren sich die Kampfhandlungen im Donbass. Es soll auch zivile Opfer geben. Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland sind zurzeit ausgesetzt. Der stellvertretende russische Außenminister Andrij Rudenko betonte, dass nicht Russland die Gespräche unterbrochen habe. Die russische Regierung sei jederzeit zu erneuten Treffen bereit, sobald von der ukrainischen entsprechende Signale kämen. Aber eilig scheint es damit keine Seite zu haben. Die Ukraine kann damit rechnen, dass ausländische Waffenlieferungen ihre Verhandlungsposition nach und nach stärken, während dem Kreml gefangene Asow-Kämpfer allein noch nicht genügen, um einen großen Sieg ausrufen zu können.