Folgt das russische Regime einer kohärenten Ideologie?

Putin der Schreckliche

Moderne Autokratie oder faschistische Diktatur? Kühler Instrumenta­lis­mus oder Wahn? Über Russland und seinen Präsidenten Putin wird wild debattiert. Gehorcht das System Putin wirklich einer kohärenten Ideologie?

Während sich der russische Präsident Wladimir Putin seinem Volk als Nazijäger verkaufen will, sind sich Tausende das Internet vollschreibende Social-Media-Politologen und einige Medien einig, dass er selbst der Nazi oder gleich der neue Hitler sei. Beschränken sich ­einige – vergleichen wird man doch dürfen! – darauf, Analogien zu Hitlers Annexion des Sudentenlands oder großer Teile Polens herzustellen, avanciert ­Putin in der Phantasie anderer zur Verkörperung des absoluten Bösen in­klusive Völkermord, Blitzkrieg und Weltherrschaft.

Teils dürfte dies eine Rationalisierung der berechtigten Empörung über diesen unfassbaren Krieg sein, teils aber auch des Wunsches nach Vergeltung, der sich in einer Totalmilitarisierung des Bewusstseins Bahn bricht, da sich der Aggressor mit besserem Gewissen vernichten lässt, wenn er Nazi ist und man selbst die Résistance. Hinzu kommt, dass in bestimmten mitteleuropäischen Ländern eine besondere Neigung verbreitet ist, Hitlers Wiedergänger bevorzugt bei den Nachkommen von Hitlers Opfern zu verorten.

Um es ganz kurz zu machen: Ethisch sind solche Analogien Verharmlosungen des Nationalsozialismus, politologisch sind sie Unfug. Vielmehr, so ließe sich nachhaken, zeugen sie von einer Verrohung der Wahrnehmung, als ob der Überfall auf ein Nachbarland und die Ermordung von Zivilisten nicht schlimm genug wären, wenn sie ohne Masterplan für Weltherrschaft und Völkermord geschehen.

Dämonie der Schwäche
Nicht nur zieht die Kritik an Nazivergleichen in den sozialen Medien den Verdacht des »Putinismus« auf sich, prinzipiell jede sachliche Prüfung kommt dieser Tage nicht umhin, als Verharmlosung des Verbrechens und deshalb obszön empfunden zu werden. Wie kann man bloß im Angesicht dieses Grauens so nüchtern sein? Absolut notwendig ist das, wäre zu erwidern, denn im Zustand emotionaler Trunkenheit übersieht man gerne, wie obszön das Füttern der Selbstgerechtigkeit mit fremdem Leid ist und welche verdrängten inhumanen Impulse sich da in der Camouflage der Humanität austoben.

Interessant ist zum Beispiel, ob sich Putin auch vor seiner »militärischen Spezialoperation« am Sarg des Erzfaschisten Wladimir Schirinowskij hätte ablichten lassen, wie es Anfang April geschah, und ob er seinen im vorigen Juli veröffentlichten programmatischen Aufsatz »Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern« auch vor der Maidan-Revolte 2014 so geschrieben (beziehungsweise schreiben lassen) hätte. Interessant ist die Genese dieser Faschisierung, aber um ungestört dieser Spur nachgehen zu können, bräuchte man eine rüstige Leibgarde, die jeden, der einem dabei unlautere Motive ­unterstellt, sofort beim Schlafittchen packt und an die ukrainische Front verfrachtet.

1993 schwärmte Putin in einem Vortrag vor deutschen Wirt­schaftsvertretern von der chile­nischen Militärdiktatur als wünschenswertestem Modell fürs zeitgenössische Russland.

Im offiziellen Phantasma aus Empörung und Angstlust gibt es indes keine dramaturgische Entwicklung, dort ist Putin kein gefallener Engel, Synchronie und Diachronie verschwimmen zu einer messianischen Endzeitvision, in der der Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Dunkelheit immer schon angelegt ist. Putin erscheint als dämonischer Vollstrecker ultrafaschis­tischer ideologischer Einflüsterer wie Aleksandr Dugin, vom Frühstücksei bis zum Gutenachtgebet und seit ehedem von nichts anderem beseelt, als ein großrussisches Nazireich zu eta­blieren, um die Schmach über den Untergang der Sowjetunion zu tilgen und, verzehrt von unbändigem Hass auf Schwule, Veganer und Weicheier, mit Hilfe westlicher Rechtspopulisten und naiver Linker Europa zu russifizieren, das heißt dessen liberale Werte ebenso zu vernichten wie renitente Völker. Aus der Anfechtung der ukrainischen Eigenstaatlichkeit und den Morden russischer Soldaten an ukrainischen Zivilisten wird bar jeder kritischen Prüfung der Plan zum Völkermord als Tatsache destilliert, wobei nie klar ist, ob dabei kulturelle Zwangsassimilation oder physische Vernichtung gemeint sein soll.

Diese Überschätzung russischer Macht mag deren narzisstischem Selbstbild zwar schmeicheln, doch selbst wenn Putin all das wollte – nicht seine Stärke, sondern seine Schwäche macht ihn so gefährlich, und in der Ukraine demonstrierte die angeblich stärkste Armee der Welt per Leerlauf der Barbarei ihre Unfähigkeit, die uk­rainische Regierung zu stürzen und sich der Sympathie des »Brudervolks« zu versichern. Das nervöse Herumfuchteln vor dem roten Atombombenknopf ist der klarste und um so fatalere Hinweis darauf, was die russische Führung in Europa auszunutzen versuchte: ­Uneinigkeit, Selbstüberschätzung, Schwäche.

Zugeschriebener und lokaler Faschismus
Die gängigen Bilder unterstellen dem System Putin eine interne Kohärenz, welche die Geschichtsschreibung wohl als Projektion erkennen wird. Ähnlich äußerte sich neulich auch Masha Gessen im Standard: »Wir neigen dazu, die Rolle von Ideologien in totalitären ­Gesellschaften zu überschätzen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Einer davon ist die Art und Weise, wie Geschichte geschrieben wird. Sie ist Text. Der an­dere Grund ist, dass wir totalitäre Gesellschaften als ideologisch getrieben ansehen, aber Ideologien werden meist zusammengeschustert. Und oft erst im Nachhinein.«

Jeder durchgeknallte ­russische Faschist mit dem Ruf eines Intellektuellen kommt dieser Tage in den Genuss, Putins Chefideologe zu sein. Zunächst war es Dugin, nun ist es Timofej Sergejzew, der jüngst für die »Entukrainisierung der Ukraine« plädierte, hinzu kommen die berüchtigten Think Tanks wie der Isborsk-Club, Katehon, das Dialogue of Civilizations Research Institute (DOC), das Russian International Affairs Council (RIAC) und diverse Trollarmeen. Ihnen allen attestiert man »Kremlnähe«, doch immer wenn dieses Hilflosigkeitsattribut aufgefahren wird, »kremlnah«, kann man mit Gewissheit sagen, dass nichts Genaues gewiss ist. Die Russland-Experten sind auf Spekulationen angewiesen, und der Umstand, dass selbst ­Teile der Armeeführung nicht in den Invasionsplan eingeweiht waren, spricht gegen eine gänzlich straffe Machtarchitektur.

Zwar ist diese pyramidal angelegt und von einem durchaus an die Nazis und Mussolini erinnernden Personenkult geprägt, doch fehlte zumindest bis Kriegsausbruch die totale institutionelle Durchdringung der russischen Gesellschaft; (noch) fehlt auch die völlige Militarisierung, wie das Ausbleiben der Generalmobilmachung beweist. Dass einflussreiche oppositionelle Fernsehsender wie Doschd erst nach der Invasion verboten wurden, deutet ebenfalls darauf hin, dass Putin den intendierten Totalitarismus noch nicht zur Gänze umsetzen konnte. Die Faschisierung der russischen Gesellschaft ist ein langer dialektischer Prozess, der sich in den vergangenen Jahren intensivierte und durch die jüngste Invasion eine rapide Beschleunigung erfuhr, und sie ist noch bei weitem nicht abgeschlossen, was einige Hoffnung für die Zeit nach Putin gibt.

Ganz gleich, welcher der vielen Faschismustheorien man den Vorzug gibt, im russischen System wird man beim Abgleich mit deren Kriterienkatalogen schnell fündig. Vor allem die Verzahnung von völkischer Ideologie und staatlicher Kontrolle der kapitalistischen Wirtschaft erfüllt in ihrer russischen Variante eines der Hauptmerkmale des Faschismus, wie es der Faschismusforscher Emilio Gentile formulierte: »Korporative Organisation der Wirtschaft, welche die Gewerkschaftsfreiheit unterdrückt, die Sphäre der staatlichen ­Intervention ausweitet und versucht, durch Technokratie und Solidarität die Zusammenarbeit der ›produktiven Sektoren‹ unter der Kontrolle des Regimes zu erwirken – dies, um die gesteckten Machtziele zu erreichen, aber gleichzeitig das Privateigentum und die Klassenunterschiede zu erhalten.«

Postmoderner machiavellistischer Supernationalismus
Vor allem im Ideenfundus des russischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts steht Putins Regime eine riesige Auswahl an Elementen für ein flexibles Modulsystem eines postmodernen ­Supernationalismus zur Verfügung, der indes weniger einheitlich ist, als im Westen geglaubt wird. Einen gemeinsamen Nenner findet er im vom zaristischen Bildungsminister Sergei Semjonowitsch Uwarow konzipierten »Dreifuß« von Orthodoxie, Autokratie und Nationalität. Dass Rekurse auf die So­wjetunion dazu nicht in Widerspruch geraten, gelingt, indem deren marxis­tische Grundierung ausgeblendet und ihre territoriale Grandeur betont wird.

Dieser Eklektizismus gleicht Recep Tayyip Erdoğans Synthetisierung einander historisch ausschließender Ideologien, die ihre Schnittmenge im simplen Konzept »Was die Türkei einst groß machte« finden: Osmanismus, türkischer Nationalismus und Islamismus. Während der türkische Präsident aber wirklich ein kleinbürgerlicher Frömmler ist, darf davon ausgegangen werden, dass Putin die längste Zeit seiner Herrschaft ein recht machiavellistisches Verhältnis zu den Mythen des »Heiligen Russland« gepflegt hat. Und wie Erdoğans Erfolg in der Türkei gründet auch der Putins darauf, dass unter seiner Regentschaft eine gering­fügige Verbesserung des Lebensstandards, eine Vergrößerung der Mittelschicht erreicht werden konnten, und wie in der Türkei zeitigte in Russland der Einbruch der Wachstumsdynamik Expansionismus und ethnische Größenphantasien.

Auch wenn das kolportierte Russland-Bild den gegenwärtigen Faschisierungsgrad in die Vergangenheit zurückdatieren will – lange konnte sich Putin als role model eines modernen Autokratentums behaupten, das sich über ethnonationalen Chauvinismus erhaben dünkt und ihn gerade so weit in­szeniert, wie es als Wunschkonzert für sein Staatsvolk opportun schien. Auch die pubertären Posen als halbnackter Krieger, Judoka und Kosake für die Heimatfront kontrastierten auf interna­tionalem Parkett mit einer sanftmütig-ironischen, weltmännischen Alertheit, der vor allem westliche Opportunisten und Investoren geradezu libidinös auf den Leim gingen. Als Vaterersatz für die homophil adoleszierenden Rechtsparteien Europas hatte er ohnehin leichtes Spiel.

In der Formationsphase seiner Macht fiel ein schlaues Austarieren der Widersprüche auf: offizielles Feiern der Multikulturalität innerhalb der Russischen Föderation bei schleichender Russifizierung, gleichzeitiges Ahnden und verdecktes Fördern von nationalistischem Extremismus. Der Autokratismus der »gelenkten Demokratie« erlaubt alles, solange es unter seiner Kontrolle ist, er unterdrückt linke und unterstützt mit dem Argument der Meinungsfreiheit rechte Stimmen, um sie dann wie ein mäßigender Mediator zur Räson zu rufen. Er monopolisiert den Chauvinismus, indem er den staatstragenden als die vertrauenswürdigere Alternative zu den Exzessen faschistischer Hooligans etabliert, die er heimlich fördert. Derselbe Trick hatte auch bei Putins ungarischem Musterschüler Viktor Orbán gut funktioniert, im Verhältnis zwischen dessen Regierungspartei Fidesz und deren noch weiter rechts stehenden Konkurrenz von der Partei Jobbik.

Putins oligarchischer Imperialismus hat den Patriotismus und Konservatismus der Bevölkerung eher instrumentalisiert, als dass er ihr Ausdruck war. Aufgrund des kollektiv internalisierten Mythos des russischen Antifaschismus als Opfer der Naziaggression käme ­weiten Teilen der Bevölkerung in der Tat nicht in den Sinn, wie sehr ihr autori­täres Bewusstsein, ihr Neotraditionalismus und ihr von oben geschürter Revanchismus viele Kriterien der Faschisierung erfüllen, da das Label Faschismus ja sowohl in der offiziellen Lesart als auch im öffentlichen Bewusstsein für den Westen, für Deutsche – oder aber Ukrainer – reserviert ist.

Man hatte bei Putin, wie es sich einem Psychopathen und zynischen Autokraten geziemt, stets den Eindruck, keines der probaten Ideologeme, von Religion über Vaterland bis zur Ablehnung westlicher Liberalität, berühre sein Herz. Hierin blieb er stets der rätselhafte, undurchschaubare Geheimdienst-Cyborg, der so wirkte, als müsse er bei all dem Ikonenschmusen und Heimatgetue ein sarkastisches Schmunzeln unterdrücken.

Wohnsitz des Bösen
Als Gegengift zu antirussischen Sentiments wird gerne der Kanon russischer Hochkultur aufgefahren und dabei im Glauben, große Literatur verbürge Humanität und Weisheit, Dostojewskij gegen Putin in Stellung gebracht. Kein Kandidat kann hierfür schlechter gewählt sein, denn gerade in ihm, dem größten Apologeten eines großrussischen Chauvinismus, finden alle Dugins, Sergejzews und Putins ihren geistigen Lehrmeister.

Im Unterschied zum Machtautomaten Putin glaubte Dostojewskij wirklich, was er in seinem programmatischen »Tagebuch eines Dichters« 1876 als russifiziertes Plagiat deutscher Volksgeistmetaphysik (Jungle World 20/2022) postulierte: die messianische Sendung des russischen Menschen, auf den Trümmern demokratisch verweichlichter westlicher Dekadenz eine neue ­Zi­vilisation zu gründen, durch kathartische und friedensstiftende Expansionskriege. Nicht nur hat der große Romancier mit diesen Flausen im russischen Mittelstand mehr Unheil angerichtet als alle zaristische Praxis, auch nach Deutschland hallte der messianische Chauvinismus zurück und inspirierte Antimodernisten wie Arthur Moeller van den Bruck, Oswald Spengler, den frühen Thomas Mann sowie so ziemlich alle Faschismen Europas.

Das nervöse Herumfuchteln vor dem roten Atombombenknopf ist der klarste Hinweis darauf, was die russische Führung in Europa auszunutzen versuchte: Uneinigkeit, Selbstüberschätzung, Schwäche.

Als Drohung war dieses imperiale Eurasien schon zu Dostojewskijs Zeiten nicht weniger ein potemkinsches Dorf, als es das heute ist. Die Angst vor der zaristischen Expansion, vor dem Überrennen Westeuropas durch unvorstellbare Heeresreserven, war bereits im 19. Jahrhundert halb Paranoia, halb Kalkül, um die eigenen imperialen Ambitionen präventiv zu rechtfertigen. Während noch um 1870 die deutschen Intellektuellen vor der panslawistischen Gefahr warnten, steckte die zaristische Regierung ihre Panslawisten ins Gefängnis oder ließ ihre Texte zensieren.

Wer als Putins politisches Vorbild am besten taugt, hat er selbst eingestanden: Es ist Zar Alexander III. Bis zu dessen Regierungsantritt 1881 waren die Zaren nicht einmal wirklich national gesinnt. Alexander kann als erster Nationalist auf dem Zarenthron bezeichnet werden; als einer indes, für den Nation nicht Liebe zum Volk und die Einheit aller Russen bedeutete, sondern bloß ein bürokratisches Werkzeug der Menschenführung.

Alexanders spin doctor Konstantin Pobedonoszew erinnerte sich: »Er erzählte einem englischen Journalisten, dass weder der geistige Instinkt noch die moralische Zurückhaltung des russischen Volkes ausreichen würde, um die wilden Leidenschaften, die in seiner Brust schlafen, ohne die Hilfe physischer Zwangsmaßnahmen zu zügeln. Er war überzeugt, daß der russische Mensch allen anderen unterlegen war, und beschrieb einmal Russland außerhalb des kaiserlichen Palastes als ›eine eisige Wüste, Wohnsitz des Bösen‹.« Hatte nicht auch Putin 1999 den Russen per ethnologischer Expertise in der Nesawissimaja Gaseta die Demokratiefähigkeit abgesprochen? »Für Russen ist ein starker Staat keine Abnormalität, die man loswerden will. Im ­Gegenteil, sie sehen ihn als Quelle und Garant der Ordnung an und als Initiator und hauptsächliche Triebkraft für ­jeden Wandel.«

Nicht nur Russen, ließe sich ergänzen, auch die Konzerne sehen den Staat überall dort so, wo er Umverteilung nicht von oben nach unten, sondern in die andere Richtung organisiert. 1991, als Putin noch Zweiter Bürgermeister von Sankt Petersburg und Vorsitzender des städtischen Komitees für Außenbeziehungen war, schwärmte er in einem Vortrag vor deutschen Wirtschaftsvertretern von der chilenischen Militärdiktatur als wünschenswertestem Modell fürs zeitgenössische Russland.

Das Neue Deutschland war vermutlich die erste westliche Zeitung, die auf den kleinen Mann mit der großen Zukunft aufmerksam wurde; dort war am 31. Dezember 1993 zu lesen: »Putin antwortete auf Fragen von Vertretern von BASF, Dresdner Bank, Alcatel und an­deren, die im ehemaligen Petersburger DDR-Generalkonsulat zusammentrafen. Dabei unterschied Putin zwischen ›notwendiger‹ und ›krimineller‹ Gewalt. Kriminell sei politische Gewalt, wenn sie auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse abziele, ›notwendig‹, wenn sie private Kapital­investitionen befördere oder schütze. Er, Putin, billige angesichts des schwierigen privatwirtschaftlichen Weges eventuelle Vorbereitungen Jelzins und des Militärs zur Herbeiführung einer Diktatur nach Pinochet-Vorbild ausdrücklich. Putins Ausführungen wurden sowohl von den deutschen Firmenvertretern als auch von dem anwesenden stellvertretenden deutschen Generalkonsul mit freundlichem Beifall auf­genommen.«

Putins wahre Banalität des Bösen und seine Dämonisierung im Westen mögen sich nicht immer decken, und es wäre mehr als Polemik zu prüfen, inwiefern sich in Letzterer nicht auch die Projektion jener eigenen antidemo­kratischen Impulse Bahn bricht, für die man Putin heimlich und oft auch offen beneidete.

Autokratenkoller
Wie Erdoğan sein passgenaues histo­risches Vorbild in Sultan Abdülhamid II., einem antiliberalen Paranoiker und Neoislamisten, fand, so Putin also in Abdülhamids Zeitgenossen Alexander III., einem dynastischen Machtpolitiker, der umso effizienter Macht ausübte, je größere emotionale Distanz er zu ­deren Ideologemen hielt. Der Zyniker weiß stets, was er tut. Beginnt er jedoch, an den Unsinn zu glauben, mit dem seine Person in Zeiten äußerster Krise verschmilzt, wird er unberechenbar.

Psychologische Deutungen von Politik, ansonsten reduktionistische Verzerrungen, erlangen bei autokratischen One-Man-Shows eine gewisse Relevanz. Viele Beobachter attestieren Putin psychische Dissoziation. Der kamikazehafte Alleingang in der Ukraine scheint die Diagnose zu bestätigen. So ist der Psychotiker, bei dem sich die Grenze zwischen Ich und Außenwelt auflöst, dem Machiavellisten, der an die Märchen zu glauben beginnt, die seine Macht stützen, wesensverwandt. Das instrumentelle Verhältnis entgleitet ihm, die Märchen dringen durch die perforierte Ich-Schranke in ihn ein und beginnen, den Beherrscher zu beherrschen. Und dieser persönliche Wahn beginnt, den latenten kollektiven zu schüren.

Natürlich dürfe man Politik, die ­immer zugleich komplexer und simpler ist, als man sich das gemeinhin vorstellt, nicht personalisieren und die Schuld des gesamten Systems Putin auf deren Charaktermaske abwälzen. Andererseits gäbe es solche personalisierten Systeme der Autokratie niemals ohne ihre singulären Architekten. Dass Putin und mit ihm seine Sykophanten offensichtlich wirklich an einen schnellen und verlustarmen Sturz der ukrainischen Führung und eine breite Zustimmung der ukrainischen Bevölkerung geglaubt hatten, bezeugt diesen Wahn, der sich von der Spitze der Machtpyramide nach unten ausgebreitet hat.

Hätte Putin dem Wunsch, vor seinem Tod noch einmal Geschichte zu machen, widerstanden und nicht die Nerven verloren, hätte er sich als Spin-­Diktator in die russische Heldenepik einschreiben können. Doch die rus­sische Phantasie wird sehr gefordert sein, um den Schaden, den dieser Führer in Russland und der Welt angerichtet hat, durch Opfermythen zu ­kaschieren.