Noch immer stehen Juden stellvertretend für alles Übel in der Welt

Welt ohne Juden

Die Dämonisierung Israels und die Relativierung des Antisemitismus sind Teil eines hippen Distinktionsgebarens und der vermeintlichen »wokeness« der Kunst- und Kulturszene. Kritische Stimmen sind selten zu hören. Verena Dengler, Leon Kahane und Michaela Meise wenden sich gegen den Einfluss der BDS-Kampagne.

Wenn ich ein Weltbild habe, das sich nur mit antisemitischen Stereotypen beschreiben lässt, ist mein Weltbild vermutlich antisemitisch. Antisemit will aber keiner sein.

Der Anarchist Wilhelm Marr fühlte sich bestimmt sehr progressiv und widerständig, als er 1879 antijüdische Ressentiments zu einer antisemitischen Ideologie zusammenfasste, die dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprach. Hätte man ihm gesagt, dass in der Konsequenz seines von allzu vielen geteilten Weltbildes sechs Millionen Juden industriell ermordet werden würden, er hätte das vermutlich mit aller Vehemenz abgestritten.

Wer einen Juden mit SS-Runen neben einem schweinsgesichtigen Cyborg-Soldaten vom Mossad malt, hat denselben Blick auf die Juden und ihren Staat wie völkisch-essentialistische Nationalsozialisten. You can’t have your cake and eat it too.

Nun gehört es zur Kernkompetenz des Antisemitismus, Widersprüche auszubügeln oder zur Not einfach wegzuknüppeln. Die Nazis hatten für ihre jahrhundertelang von Juden ausgesaugte Welt auch eine paradiesisch unbeschwerte und konfliktfreie Maibaumtanz-Utopie parat. In dieser Welt voller Traditionen, Folklore und ungebrochener Identitäten hätte es nie wieder Kriege und Konflikte geben müssen, weil es die Urheber und Profiteure von Konflikten auch nicht mehr gegeben hätte.

Das mit der Endlösung hat doch nicht ganz geklappt. Die Nazis wurden besiegt. Es gibt keine Antisemiten mehr, außer jenen, die sich bis heute als Nationalsozialisten identifizieren. Das war’s. Oder war es das? Nein, natürlich nicht. Dieses Weltbild findet sich in viele Varianten auseinandergeschwurbelt überall auf der Welt wieder. Der Wunsch nach Entlastung wächst überall mit den Konflikten der Individualisierung, die einen so schrecklich einsam und eigenverantwortlich macht. Daran sind die Juden schuld, seit sie aus einer Armee entlastender Götzen einen abstrakten Gott als gesetzes­hütende Schuldinstitution gemacht haben.

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