Ein Gespräch mit dem Menschenrechtsanwalt Mario Melo über die sozialen Proteste in Ecuador

»Wir erleben den Protest der Abgehängten«

Zu hohe Treibstoff- und Lebensmittelpreise. Der Menschenrechtsanwalt Mario Melo spricht über die vom indigenen Dachverband Conaie initiierten sozialen Proteste in Ecuador.
Interview Von

Seit dem 13. Juni dauern die vom Dachverband Confederación de ­Nacionalidades Indígenas del Ecuador (Bündnis der indigenen Natio­nalitäten Ecuadors, Conaie) initiierten sozialen Proteste in Ecuador an. Anlass waren die hohen Treibstoff- und Lebensmittelpreise. Die zunächst friedlichen Proteste eskalierten. Mehrfach ist es zu Gewalt gekommen, die Regierung von Präsident Guillermo Lasso verhängte am 17. Juni über Teile des Landes den Ausnahmezustand. Droht eine neuerliche Eskalation wie bei den Protesten im Oktober 2019, die sich ebenfalls an hohen Treibstoff­preisen entzündeten und bei denen mindestens elf Menschen starben?

Die Situation ist kritisch und sehr angespannt. Nachdem am 20. Juni ein Mann gestorben ist, weil ihn laut Obduktion eine Tränengasgranate schwer am Kopf verletzt hatte, nahmen die Konfrontationen in den darauffolgenden Tagen zumindest ab. Das ist erfreulich; erschreckend ist, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Hier herrscht eine angespannte Ruhe, ganz Ecuador wartet, bis sich beide Seiten an den Verhandlungstisch setzen.

Hat die Regierung des konservativen Präsidenten keine Lehren aus den Protesten von 2019 unter ihrer Vorgängerregierung des linken Präsidenten Lenín Moreno (2017­–2021) gezogen?

Offenbar nicht. Wir müssen raus aus der Konfrontation, aber das ist alles andere als einfach und dazu bedarf es politischer Kompromissbereitschaft.

Die Regierung hat gleich am zweiten Tag der Proteste, am 14. Juni, den Vorsitzenden der Conaie, Leonidas Iza, festnehmen lassen – ohne richterliche Anordnung. War das ein Fehler?

»Das Indigenenbündnis Conaie ist nicht angetreten, um den Präsidenten oder die Regierung zu stürzen, sie ist mit einem konkreten Forderungskatalog, der bisher nicht erfüllt wurde, nach Quito gezogen.«

Ohne Zweifel, die Festnahme von Leonidas Iza war ein verheerendes Signal und hat die Proteste erst angeheizt.
Die Regierung hat die Armee zur Hilfe gerufen, das Zentrum von Quito ist in der Hand der Armee. War diese Reaktion nachvoll­ziehbar?
Für mich war sie nachvollziehbar, denn dort befinden sich zahlreiche Ministerien, die Generalstaatsanwaltschaft, aber auch der Regierungspalast. Die sollten geschützt werden vor den Protestierenden.

Allerdings gibt es auch Berichte, wonach die Polizei in der Umgebung der Universitäten, wo das Gros der indigenen Demonstrierenden lagert, Tränengasgranaten abgeschossen hat und gegen die Menge vorgegangen ist.

Ja, das ist besorgniserregend, zumal die Polizei auch in die Universitäten eingedrungen ist. Dazu gab es keine Handhabe. Das sind Übergriffe, die auch von der Ombudsstelle für Menschenrechte verurteilt wurden. Ich hoffe, dass sich das nicht wiederholt, denn die Universitäten, darunter auch die, an der ich arbeite, unterstützen die Menschen – mit Unterkunftsvermittlung, medizinischen Versorgungsposten und psychologischer Beratung. Das ist wichtig und die Ordnungskräfte sollten diese Orte schützen und nicht angreifen. Das ist ihr Auftrag.

Die Polizei hat auch einen symbolischen Ort besetzt, das »Haus der Kultur von Ecuador« (Casa de la Cultura Ecuatoriana, CCE), das traditionell als Treffpunkt und Zentrale während indigener Protestveranstaltungen genutzt wurde. Hat das zur Eskalation beigetragen?

Definitiv, denn die Maßnahme verschärfte die Spannungen und sorgte dafür, dass die indigenen Organisationen anfangs keinen Ort für ihre Treffen hatten. Mittlerweile sind sie an der Universidad Central untergekommen, die sich am Rande des Zentrums von Quito befindet.

Der Umgang mit den indigenen Protesten, denen sich mittlerweile zahlreiche Organisationen, Gewerkschaften und Studierende angeschlossen haben, erschien von Beginn an unangemessen. Die Regierung Lasso ist auf die Forderungen der Conaie nicht eingegangen, hat es zu den Protesten kommen lassen, nicht verhandelt und sie quasi angeheizt. Unterschätzt sie die indigene Mobilisierungsfähigkeit?

Ich glaube, dass es komplizierter ist. Es ist richtig, dass die indigenen Organisationen dazugelernt haben, wissen, wie die Regierung funktioniert, besser qualifiziert sind. Allerdings sind es nicht nur die indigenen Organisationen, die auf die Straße gehen, sondern mittlerweile etliche andere Organisationen und viele soziale Gruppen, die unter der Wirtschaftskrise und der Armut leiden.
Hinzu kommt das unglückliche Auftreten des Präsidenten, der zwar zum Dialog aufruft, aber parallel dazu die Repression verschärft und die Situation verharmlost. Das trägt nicht zur Glaubwürdigkeit der Regierung bei, die Festnahme von Iza hat die Fronten verfestigt und die Verhängung des Ausnahmezustandes über erst drei, dann sechs Provinzen des Landes war im ersten Anlauf nicht verfassungskonform.

Gibt es Einigkeit unter den indigenen Organisationen?

Anfangs nicht in dem Maße wie derzeit. Die Festnahme Izas hat die Bewegung zusammengeschweißt.

Die Forderungen der Conaie sind klar und auch international als nachvollziehbar bezeichnet worden. Ist dem so?

Ja, im Kern geht es um die Reduzierung der Treibstoffpreise und Preiskontrollen für die wichtigsten Grundnahrungsmittel wie Speiseöl und Mehl, die deutlich teurer geworden sind. Hinzu kommt, dass Kredite teurer geworden sind, so dass vielen Haushalten das Wasser bis zum Halse steht. Die dritte wesentliche Forderung ist die Rücknahme der verfügten Ausweitung der Förderung von Erdöl und Mineralien in bisher geschützten Gebieten in der Amazonas-, aber auch in anderen Regionen.

Dem letzten Bericht des ecuadorianischen Statistikinstituts INEC von Dezember 2021 zufolge gelten in Ecuador 27,7 Prozent der Bevölkerung als einkommensarm, verfügen also über ein Familieneinkommen von umgerechnet unter 85,60 US-Dollar pro Monat. Steht Ecuador vor einer sozialen Eskalation?

Ecuador befindet sich in einer gravierenden Wirtschaftskrise, es fehlt an Arbeitsplätzen, der Preisanstieg beim Benzin und bei Grundnahrungsmitteln ist spürbar und die Unsicherheit auf den Straßen kommt hinzu. Obendrein funktioniert die staatliche Infrastruktur nicht, Personal wird abgebaut. Ein Beispiel: Einen neuen Pass können die Behörden derzeit kaum ausstellen, weil es an Materialien fehlt. All das sorgt für wachsende Unzufriedenheit und dafür ist die Regierung mitverantwortlich, weil die Verteilung der Ressourcen nicht funktioniert.

Für die Sparzwänge wird oft der ­Internationale Währungsfonds (IWF) verantwortlich gemacht – ist es so einfach?

Die Vorgaben des IWF (die Regierung Lasso hat im September 2021 ein neues Abkommen geschlossen, doch bereits unter Moreno erhielt Ecuador IWF-Kredite, Anm. d. Red.) erzwingen eine ­restriktive Verteilung der Ressourcen. Das sorgt für Probleme, die Ökonomie leidet unter den Folgen der Pandemie, die Wirtschaft hat sich nur langsam erholt und die Bevölkerung erwartet Maßnahmen der Regierung zur Ankurbelung der Wirtschaft, aber auch um die Krise sozial abzufedern. Genau diese Erwartungen erfüllt die Regierung nicht – die Situation wird chaotisch.

Hat sich die Conaie zur Speerspitze der sozialen Protestbewegung in Ecuador entwickelt?

Ich denke schon. Ich schätze das Mobilisierungspotential der Conaie auf 20 000 bis 50 000 Menschen. In Quito hat es aber jüngst Demonstrationszüge mit 200 000 und mehr Menschen ­gegeben. Es sind also viele Menschen mobilisiert worden, die nicht indigener Herkunft sind, oftmals in extremer Armut leben. Sie sind enttäuscht von einer Regierung, die ihre Dienstleistungen zurückfährt, nicht oder nur wenig hilft und ein Konzept vermissen lässt. Wir erleben den Protest der Abgehängten.

Die Conaie hat eine Vermittlung bei den anstehenden Verhandlungen mit der Regierung abgelehnt, Beobachter sind jedoch erwünscht. Warum diese Ankündigung?

Die indigenen Organisationen haben in der Vergangenheit immer wieder negative Erfahrungen mit Abkommen gemacht, die nicht eingehalten wurden. Das gilt auch für die Abkommen von 2019, die Unterstützung für kleinbäuerliche Betriebe vorsahen. Internationale oder nationale Vermittler können die Dinge auch verkomplizieren, etwa durch den Einsatz moderner Kommunikationstechnologie, denn es entspricht indigener Tradition, direkt Auge in Auge zu verhandeln.

Sowohl Präsident Lasso als auch mehrere Minister werfen der Conaie vor, einen Umsturz zu planen. Wie soll unter diesen Bedingungen verhandelt werden?

Die Conaie ist nicht angetreten, um den Präsidenten oder die Regierung zu stürzen, sie ist mit einem konkreten Forderungskatalog, der bisher nicht erfüllt wurde, nach Quito gezogen. Das schließt aber nicht aus, dass es innerhalb der Conaie Menschen gibt, die ­einen Umsturz wollen. Die Conaie ist nicht für alle ihre Mitglieder verantwortlich, nur für das, was die Organisation öffentlich fordert. Der Umsturz gehört nicht dazu.

 

Mario Melo

Mario Melo ist Menschenrechtsanwalt und Dozent an der Päpstlichen Katholischen Universität von Ecuador (PUCE) in Quito. Er leitet das Menschenrechtszentrum der Universität und hat mehrfach indigene Bevölkerungsgruppen bei der Durchsetzung ihrer Rechte vertreten.