Um die Hungersnot in Afghanistan zu bekämpfen, kooperieren NGOs mit den Taliban

Mit den Henkern gegen den Hunger

In Afghanistan herrscht eine humanitäre Katastrophe. Hilfsorganisationen sehen sich dazu gezwungen, mit den Taliban zusammenzuarbeiten.
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Knapp ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban ist die humanitäre Lage in Afghanistan verheerender denn je. Fast 23 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, leiden nach UN-Angaben unter akuter Ernährungsunsicherheit. Besonders stark betroffen sind nahezu alle Haushalte, die von Frauen geführt werden. Acht Millionen Afghaninnen und Afghanen sind von einer existentiellen Hungersnot bedroht. Damit ist das fundamentale Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit in einem Maße nicht gewahrt, wie es noch vor wenigen Jahren selbst für Afghanistan kaum vorstellbar erschien.

Die Ursachen für das Elend sind klar benennbar: Nach über vier Jahrzehnten Dauerkonflikt sind nicht nur gesellschaftliche Solidarsysteme zerstört, auch die Wirtschaft des Landes ist ruiniert. Seit Beginn des »war on terror« im Oktober 2001 war Afghanistan offiziell von ausländischer Hilfe abhängig, inoffiziell war bereits das erste Regime der Taliban (ab 1996) vor allem auf Zuwendungen aus Pakistan angewiesen.

Die internationale Hilfe wurde nach dem Abzug der westlichen Truppen im Sommer 2021 jedoch eingestellt oder stark eingeschränkt. Die Lieferengpässe und horrenden Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für Getreide, die bereits vor dem Ukraine-Krieg begonnen hatten, trafen Afghanistan noch härter als andere importabhängige Länder.

Hinzu kommt, dass in Afghanistan eine schwere Kaufkraftkrise herrscht. Diese geht nicht allein auf die endemische Armut nahezu der gesamten Bevölkerung zurück, sondern ist auch eine direkte Folge der internationalen Sanktionen gegen das Taliban-Regime. Die hatten im vergangenen Herbst unter anderem zum Zusammenbruch des Zahlungsverkehrs geführt; es gab binnen weniger Tage schlicht kein Geld mehr, mit dem man Nahrungsmittel hätte kaufen können.

Politische Beobachter tendieren mehrheitlich dazu, für diese Misere weniger die Taliban als vielmehr die Afghanistan-Politik der westlichen Staaten verantwortlich zu machen. Der in Brüssel ansässige Think Tank International Crisis Group warnte, Hunger und Elend könnten »mehr Afghanen töten als alle Bomben und Gewehrkugeln der vergangenen 20 Jahre«, und machte als Hauptverantwortliche die ausländischen Geldgeber aus, die ihre Unterstützung bis auf rudimentäre humanitäre Hilfe eingestellt hätten. Ashley Jackson vom Londoner Overseas Development Institute sprach gar von »wirtschaftlicher Kriegführung« der USA gegen Afghanistan. In internationalen NGOs sieht man das ähnlich. Beispielsweise äußerte Anders Fänge vom Schwedischen Afghanistan-Komitee, es sei »nicht schwer, die Gefühle vieler Afghaninnen zu verstehen, wenn sie sagen, dass die USA den Krieg verloren haben und sich jetzt dafür an ihnen rächen«.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt haben Hilfsorganisationen einschließlich der maßgeblichen UN-Organisationen indes längst begonnen, mit den Taliban zu kooperieren und die Verteilungen von Hilfsgütern von ihnen kontrollieren zu lassen. Anders könne man die akute Not nicht lindern, argumentiert Thomas ten Boer von der Welthungerhilfe. Der Preis für eine solche Zusammenarbeit ist hoch: Die Taliban können sich als legitime Regierung etablieren, was ihnen international ansonsten kaum gelingt. Und sie können ihre reaktionären Vorstellungen durchsetzen: Wie das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten berichtete, werden Frauen bei Hilfsgüterverteilungen benachteiligt oder schikaniert. Als humanitäre Helferinnen unterliegen Frauen erheblichen Arbeitsbeschränkungen, zahlreiche Gesundheitsprogramme zugunsten von Frauen wurden verboten.

Wegen der ungeheuren Not erscheinen eine teilweise Aussetzung von Sanktionen und sogar eine technische Kooperation mit den von den Taliban kontrollierten Behörden derzeit unumgänglich. Deren Aufwertung ist zwar eigentlich unerträglich, doch für Prinzipienreiterei ist es längst zu spät. Der zynische Gedanke, der Hunger werde zu Brotrevolten führen und die Taliban würden letztendlich stürzen, entbehrt aufgrund der gesellschaftlichen Desorganisierung in Kombination mit brutaler Repression jeglicher Grundlage.