Im Libanon gehen Polizei und Fanatiker gegen LGBTIQ vor

Von Verbündeten zu Sündenböcken

Die Repression gegen LGBTIQ im Libanon hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Errungenschaften der Protestbewegung von 2019 stehen auf dem Spiel.

Die libanesische Hauptstadt Beirut mit ihrem bunten Nachtleben gilt über die Landesgrenzen hinweg als Zufluchtsort für LGBTIQ der Region. Doch am Abend des 24. Juni kursierte ein Schreiben des Innenministers Bassam Maw­lawi in sozialen Medien: Die Polizei solle »alle Feiern, Treffen oder Versammlungen verhindern«, deren Ziel es sei, »unnatürliche sexuelle Beziehungen« zu fördern, heißt es bürokratisch in seiner Anordnung. Insbesondere Veranstaltungen, die im Rahmen des sogenannten Pride Month organisiert wurden, der vielerorts im Juni gefeiert wird, sind von der repressiven Anordnung betroffen.

Polizeirazzien in Schwulenbars und Nachtclubs waren auch zuvor im Libanon keine Seltenheit, doch nun kommt ein neues Element hinzu. »Neben den staatlichen Vertretern tritt nun eine Bewegung organisierter Gewalttäter auf den Plan. Sie nutzt die Entscheidung des Innenministers als Legitimation für ihre Gewalt gegen die Szene«, sagt Bechara Samneh von der libanesischen Menschenrechtsorganisation Mosaic im Gespräch mit der Jungle World. Aus Regierungskreisen seien Listen der Veranstaltungsorte an die ­Öffentlichkeit gelangt, die den Angreifern nunmehr bekannt seien.

Eine Gruppe christlicher Funda­mentalisten verbreitet unter dem Namen »Soldaten Gottes« in sozialen Medien Morddrohungen und Hass­botschaften gegen Homosexuelle .

Aufgefallen ist eine Gruppe christlicher Fundamentalisten, die unter dem Namen »Soldaten Gottes« in sozialen Medien Morddrohungen und Hassbotschaften gegen Homosexuelle verbreitet. Am Tag nach der Entscheidung Mawlawis filmte die Gruppe sich bei der Zerstörung einer Kunstinstallation, die anlässlich des Pride Month im vornehmlich von Christen bewohnten Beiruter Stadtteil Ashrafiyya aufgestellt worden war: ein Mosaik von Blumen, die über den Juni hinweg erblühten und deren Farben zusammen eine Regenbogenflagge ergaben. In der nörd­lichen Stadt Tripoli machen vergleichbare Gruppen auf sich aufmerksam, ­indem sie Namen von Homosexuellen im Internet veröffentlichen und Geschäfte angreifen, die sich offen mit LGBTIQ solidarisch zeigen.

Die Hetze wirkt sich auch ökonomisch aus. Immer mehr Läden und Cafés hängen gegen Homosexualität gerichtete Schilder in ihre Schaufenster. Selbst der libanesische Lebensmittelkonzern Daher Foods hat sich öffentlichkeitswirksam vom bisherigen Ver­packungsdesign seiner Kartoffelchips distanziert: Die Nutzung von Regen­bogenfarben habe nichts mit irgendeinem Symbol zu tun. »So lächerlich das klingt – es zeigt, wie unverblümt Homophobie derzeit zum Ausdruck kommen kann. Wir haben nur noch sehr wenig Zeit: Wenn wir jetzt nicht handeln, wird sich das wie ein Flächenbrand ausbreiten«, mahnt Samneh.

Dabei blickt der Libanon auf einen langjährigen Trend zur Liberalisierung zurück. So gilt Homosexualität der ­Libanesischen Psychiatrischen Gesellschaft (LPS) seit 2013 nicht mehr als psychische Störung. 2017 entschieden mehrere Richter, der seit der franzö­sischen Kolonialherrschaft im Strafgesetzbuch enthaltene Artikel 534 sei nicht mehr auf einvernehmliche, gleichgeschlechtliche Beziehungen anwendbar. Er kriminalisiert »unnatürliche« sexuelle Handlungen, definiert jedoch nicht, was als unnatürlich gilt. »Wie das Gesetz interpretiert wird, hängt vom kulturellen Kontext ab«, betont Samneh. »Doch wenn die Gerichte jetzt ­unter Druck gesetzt werden, könnten große Rückschritte passieren.«

Die religiösen Führer erhöhen bereits den Druck. So verlautbarte der oberste sunnitische Geistliche des ­Libanon, Großmufti Scheich Abdul Latif Derian, am Freitag voriger Woche: Die Dar al-Fatwa – eine staatliche Behörde, die Regeln speziell für Sunniten festsetzt – werde »die Legalisierung von Homosexualität oder Zivilehe nicht ­zulassen«.

Eine reaktionäre Gegenbewegung zeichnete sich bereits seit 2018 ab, als die zweite Beirut Pride verboten und ihr Organisator Hadi Damien inhaftiert wurde. Ein Jahr später konnten Regierungspolitiker und Reli­gionsführer ­einen Auftritt der libanesischen Rockband Mashrou’ Leila verhindern, indem sie die Ho­mosexualität des Sängers öffentlich skandalisierten. Gewaltbereite Gruppen hatten damals einen Anschlag auf das Konzert vorbereitet.

Die autoritären Anwandlungen scheinen mit der politischen und ökonomischen Krise zusammenzuhängen. Durch Korruption und Staatsverschuldung befindet sich die libanesische Wirtschaft seit 2019 in der schwersten Krise der Geschichte des Landes; Massenproteste, Pandemie, die Explosion am Hafen und der Ukraine-Krieg taten in den Folgejahren ein Übriges (Jungle World 16/2022). Lebensmittel sind mittlerweile viermal so teuer wie 2018, das libanesische Pfund hat enorm an Wert verloren. Einem Bericht der UN-Organi­sation Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) von September 2021 zufolge leben 74 Prozent der Bevölkerung in Armut. Es fehlt nicht nur an Brot und anderen Nahrungsmitteln, auch die Stromversorgung und die Müllabfuhr sind zu großen Teilen zusammengebrochen.

Zu Beginn der »Thawra« (arabisch für »Revolution«), der Massenproteste ­gegen steigende Lebenshaltungskosten und die korrupte politische Führungsschicht, im Oktober 2019 herrschte noch hoffnungsvolle Stimmung (Jungle World 45/2019). Auch der Kampf um sexuelle Befreiung fand immer wieder Einzug in die Proteste gegen das politische System. Die Wut auf die herrschende Klasse schuf über Konfessionsgrenzen hinweg eine nie dagewesene Einheit, es schien möglich, die tiefgreifende religiöse Parzellierung der Gesellschaft zu überwinden.

Doch da aufgrund von Klientelismus und Korruption die ökonomische Herrschaft im Libanon vorrangig als politische erscheint, konnte sich bei den meisten Protestierenden kein klares Verständnis der Klassenverhältnisse ausbreiten. Daher fängt die kurzlebige Solidarität nun an zu bröckeln: »Wir beobachten eine Art kollektive Amnesie«, stellt Samneh fest. »Sie bringt die Menschen dazu, all diese Bündnisse zu vergessen, insbesondere die LGBTQ+, die 2019 neben Ihnen auf der Straße standen.«

Wird die Krise zum Dauerzustand, können Verbündete zu Sündenböcken werden. Das kommt insbesondere der politischen Führung zugute, denn Innenminister Mawlawi hat in den so­zialen Medien viel Zuspruch für die Repressionsmaßnahmen erhalten. »­Inmitten multipler Krisen wird ihnen wieder applaudiert«, so Samneh.

Neben LGBTIQ werden auch syrische Flüchtlinge vermehrt angefeindet. Am 20. Juni drohte der seit Juli 2021 amtierende Ministerpräsident Najib Mikati öffentlich, die Geflüchteten aus dem Land zu vertreiben, sollte die »inter­nationale Gemeinschaft« nichts für deren Repatriierung unternehmen. Danach kam es der unabhängigen Online-Plattform Megaphone.news zufolge im Beiruter Stadtteil Bourj Hammoud zu Angriffen der Armee auf syrische Geflüchtete.

Die politischen Vorstöße von Mikati und Mawlawi fallen in die Zeit der Regierungsbildung im Libanon. Aus den Wahlen am 15. Juni ist die bisherige ­Regierungskoalition geschwächt hervorgegangen (Jungle World 21/2022).