Die Covid-19-Infektionszahlen steigen jetzt auch im Sommer, Vorkehrungen werden nicht getroffen

Zurück in die Zukunft

Die Covid-19-Pandemie bleibt, Infektionswellen treten in diesem Jahr erstmals im Sommer auf. Impfungen und hohe Infektionszahlen mindern jedoch bei den meisten das Risiko einer schweren Erkrankung bei der nächsten Ansteckung.

Nun ist sie da, die erste Sommerwelle der Covid-19-Pandemie. Das ist kaum zu übersehen, auch wenn in die Statistik nur durch sogenannte PCR-Tests be­stätigte Infektionen eingehen; solche Tests werden aber deutlich seltener vorgenommen als Antigentests. Die Testpositivrate, also der Anteil der PCR-Tests, die positiv ausfallen, lag in der Woche vom 20. bis zum 26. Juni bei 52 Prozent, was ein deutliches Zeichen für die Untererfassung von Infektionen ist.

Aufschlussreicher ist die Zahl derjenigen, die mit einer akuten Atemwegs­erkrankung in einem Krankenhaus und dort auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Sie ist nicht höher als in den beiden Jahren vor Ausbruch der Pandemie. Deutlich höher ist die Zahl derjenigen, die wegen eines Atemweginfekts ambulant ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, sie ist fast dreimal so hoch wie in den Vergleichsjahren 2017 bis 2019. Derzeit befinden sich 1 062 Menschen hierzulande aufgrund einer Covid-19-Erkrankung in intensivmedizinischer Behandlung, das sind deutlich mehr als vor einem Jahr. Außerdem nimmt die Zahl der Intensiv­patienten rapide zu. Auch die Zahl derjenigen, die täglich an der Krankheit sterben, lag zuletzt mit etwa 80 auf vergleichsweise hohem Niveau.

Wie in den Vorjahren scheint sich im Sommer bei den politisch Verantwortlichen Lethargie auszubreiten; im Oktober dürften sie dann in den Panikmodus wechseln.

Allerdings ist die Hoffnung berechtigt, dass die Kombination aus Impfungen und durchgemachten Infektionen zusammen mit der im Vergleich seltener tödlichen Omikron-Variante dazu beitragen könnte, dass trotz des Endes fast aller Schutzmaßnahmen die Zahl schwerer Erkrankungen langsamer steigen wird als die Zahl der Infektionen.

Doch statt die Situation in den Sommermonaten zu nutzen, um die Impfkampagne zu forcieren, das erschöpfte Pflege- und Krankenhauspersonal zu entlasten und endlich damit zu beginnen, das Gesundheitswesen menschenfreundlicher und effizienter umzustrukturieren, passiert derzeit nicht viel. Trotz aller Beteuerungen, es diesmal besser zu machen, wird wie in den Jahren zuvor abgewartet und gehofft, dass es nicht so schlimm kommen wird. Und wie in den Vorjahren scheint sich im Sommer Lethargie auszubreiten, die dann – folgt man der bekannten Dramaturgie – im Oktober dem Panikmodus weichen wird.

Wichtig für den weiteren Umgang mit der Pandemie wäre es zu wissen, wie wirksam die verschiedenen Hygienemaßnahmen waren. Am Freitag vergangener Woche hat eine Expertenkommission der Bundesregierung ein Gutachten veröffentlicht und an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) übergeben, das die Maßnahmen der vergan­genen Jahre zur Eindämmung wissenschaftlich ­bewerten und zur maßgeblichen Grundlage für weitere Entscheidungen werden soll. Die Präsentation war, folgt man den anwesenden Mitgliedern der Kommission, ein weiterer Beleg für das staatliche Versagen bei der Bekämpfung der Pandemie. Die Experten hätten viele Maßnahmen nicht eindeutig bewerten können, da versäumt worden sei, die dafür notwendigen Daten durch hochwertige Studien zu erheben, wie die stellvertretende Kommissionsvorsitzende Helga Rübsamen-Schaeff beklagte. Testpflicht oder Ausgangssperren, ab welcher Inzidenz bei welcher Variante und Impfquote? Man weiß es alles nicht. Selbst für die Bewertung von Impfungen und Medikamenten sei die Zeit zu knapp gewesen.

Die ebenfalls an dem Gutachten beteiligte Soziologin Jutta Allmendinger lenkte den Blick auf die negativen Effekte von Schulschließungen als eine der wenigen Maßnahmen, bei denen die Evidenzlage gut sei. Bei Erwachsenen und Kindern hätten die Schulschließungen ein »unglaubliches Ausmaß an mentaler Erschöpfung« sowie den »Rückfall in alte Geschlechterrollen« bewirkt. Dass sich Grundsätzliches an der für die Vorbereitung auf Infektionswellen notwendigen Datenerhebung bessern wird, darf angesichts der jüngst eingeführten Gebühr für Tests bezweifelt werden.

Die fehlenden statistischen Belege spielen insbesondere der FDP in die Hände. Sie kann weiterhin mit dem Verweis auf fehlende statistische Grund­lagen den Infektionsschutz ablehnen und Verantwortungslosigkeit als Eintreten für individuelle Freiheitsrechte verkaufen. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz soll das Gutachten zu einer Grundlage der Verhandlungen zwischen Gesundheitsminister Lauterbach und Justizminister Marco Buschmann (FDP) über die Anpassung des Infektionsschutzgesetzes werden.

In der Bundesregierung stehen sich mit der FDP auf der einen und der SPD sowie den Grünen auf der anderen Seite Verfechter unterschiedlicher Strategien des nationalen Pandemie-Managements gegenüber. Während SPD und Grüne staatlich kontrollierte Beschränkungen befürworten, wenn es nötig wird, um die Gesundheits- und Pflegebranche nicht zu überlasten, krankheitsbedingte Arbeitsausfälle zu reduzieren und damit die Verwertung von Arbeitskraft zu garantieren, konzentrieren sich die FDP-Politiker auf Vulgär­individualismus, dem zufolge jede selbst entscheiden soll, ob sie an Covid-19 erkranken möchte.

Es bleibt abzuwarten, wie lange diese Haltung bei der überwiegend jungen, weitgehend gesunden und überdurchschnittlich wohlhabenden Klientel der FDP mehrheitsfähig bleibt. Denn auch ihre Angehörigen können nach einer Covid-19-Erkrankung von einem bisher unterschätzten Problem betroffen sein: dem sogenannten Post-Covid-19-Zustand. Allgemein werden darunter Symptome verstanden, die länger als drei Monate nach einer Sars-CoV-2-Infektion anhalten. Allerdings gibt es darüber hinaus bisher keine eindeutige Definition von Post-Covid, auch sind die krankheitsauslösenden Prozesse nicht klar.

Fest steht dagegen, dass sehr viele Menschen, auch junge und widerstandsfähige, lange brauchen, um sich von Covid-19 zu erholen. Schätzungen, die den Anteil aller Infizierten, die nach ­einer Erkrankung unter Post-Covid leiden, auf zehn Prozent beziffern, geben eine grobe Orientierung, sind aber mit Vorsicht zu betrachten. Zum einen sind die Symptome vielfältig und oft unspezifisch und kommen auch bei vielen Menschen vor, die nicht an Covid-19 erkrankt waren, beispielsweise Erschöpfung, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen. Zum anderen lässt sich das Auftreten eines Zustands schlecht quantifizieren, wenn der Zustand nicht genau definiert ist. Das Post-Covid-19-Syndrom wird mit sogenannter Ausschlussdiagnose ermittelt, also indem man andere Ursachen ausschließt, die ähnliche Symptome erklären könnten.

Für den Herbst geht das Gesundheitsministerium von drei möglichen Szenarien aus: Im günstigsten Fall dominiert eine harmlosere Virusvariante. Dann gäbe es zwar immer noch viele Ansteckungen, aber weiterhin relativ wenig schwere Verläufe. Im zweiten und wahrscheinlichsten Szenario geht man von zahlreichen mehr oder weniger schweren ambulant behandelbaren Erkrankungen aus. Der schlimmste, aber unwahrscheinliche Fall wäre die Ausbreitung einer neuen, ansteckenderen und tödlicheren Variante. Dann seien weitreichende Beschränkungen inklu­sive Lockdowns nicht ausgeschlossen. Im zweiten Szenario wird für Herbst und Winter mit durchschnittlich 1 500 Toten pro Woche gerechnet. Das wären fast so viele wie im Winter 2020/21, als die Impfkampagne gegen Sars-CoV-2 gerade begann.

Nicht einbezogen in diese Kalkulationen wurde allerdings, dass sich durch den Wegfall aller Beschränkungen eine Corona- und eine Grippewelle überlappen könnten. Da Letztere in den vergangenen beiden Jahren aufgrund von Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen praktisch ausgeblieben ist, ist eher von einer stärkeren Krankheitslast durch Grippe- und Erkältungsviren im nächsten Winter auszugehen. Schließlich ist das durchschnittliche Immunsystem mangels Gelegenheit weniger auf Grippeviren trainiert, als es vor Corona üblich war. Eine beherzte Impfkampagne könnte dem entgegenwirken, allerdings war die Grippeimpfquote in der Saison 2020/21 mit 46,5 Prozent niedrig und in den Jahren davor noch niedriger. Um die Krankheitslast, also in erster Linie die Zahl der schweren Verläufe, durch diese Infektion deutlich zu reduzieren, wird eine Impfquote von mehr als 70 Prozent gefordert.

Und was ist mit den Impfungen gegen Covid-19? Die derzeit verwendeten Impfstoffe schützen weiterhin gut vor Tod oder einem schweren Verlauf, allerdings nimmt die Wirkung vergangener Impfungen langsam ab. Auffrischungsimpfungen sind insbesondere für ältere Menschen und solche mit geschwächtem Immunsystem notwendig. Die Firmen Pfizer/Biontech und Moderna haben nach eigenen Angaben erfolgreich an die Omikron-Variante angepasste Impfstoffe entwickelt und getestet. Sie sollen ein hohes Level an Antikörpern erzeugen und ab Mitte September für die nächste Impfkampagne bereitstehen.

Angst vor dem kommenden Herbst und Winter ist dennoch nicht unbegründet, weil weder die Situation der Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Pflegeheimen noch die Lage der im ambulanten Sektor Tätigen entscheidend verbessert wurde. Das große Problem im nächsten Winter werden die Notaufnahmen sein, die jetzt bereits vielerorts völlig überlastet sind. Dass die Streiks an den Kliniken in Nordrhein-Westfalen (und erwartbar auch an anderen Krankenhäusern) diese Zustände grundsätzlich und rechtzeitig ändern können, muss leider bezweifelt werden.