Die Popularität der Krimis nach Francis Durbridge bleibt ein Rätsel der Fernsehgeschichte

Das Tuch im Kasten des Schülers des Bruders der Toten

Die »Straßenfeger«-Krimis nach Francis Durbridge, die Millionen vor die Bildschirme bannten, waren zäh, wirr und unlogisch. Ihre Popularität war noch rätselhafter als die Plots. Die Frage nach dem Erfolg führt ins deutsche Wohnzimmer der sechziger Jahre.

Wer am Mittwoch, dem 10. Januar 1962, den Fernseher einschaltete, um die vierte Folge des vom Westdeutschen Rundfunk in sechs Teilen ausgestrahlten Kriminalstücks »Das Halstuch« zu sehen, wurde zu Beginn von einer Männerstimme über den bisherigen Handlungsablauf informiert:

»In Littleshaw, einem kleinen Ort in der Nähe von London, wartet ­Edward Collins vergeblich auf seine Schwester Faye. Am nächsten Tag wird sie tot aufgefunden, erwürgt mit einem Schal. Marian Hastings, die Verlobte des Gutsbesitzers Alistair Goodman, gibt an, Faye Collins am Abend vor ihrer Ermordung in Begleitung eines ihr unbekannten Herrn gesehen zu haben. Einige Tage später entdeckt sie ihn auf einem Zeitungsfoto wieder. Es handelt sich um den Verleger Clifton Morris. Gerald Quincey, ein Geigenschüler von Edward Collins, findet in seinem Geigenkasten das Halstuch, mit dem Faye Collins umgebracht worden ist. Kommissar Yates zeigt Morris den Schal. Er identifiziert ihn als seinen, bestreitet jedoch, irgendetwas mit dem Fall zu tun zu haben. Ein Arbeiter findet in der Nähe der Mordstelle das Feuerzeug von Clifton Morris. Kommissar Yates bringt Morris selbst das Feuerzeug, das ihm angeblich gestohlen wurde. Dabei gelingt es ihm, von Morris eine Schriftprobe zu ­bekommen. Die Schrift ist identisch mit der auf einer Geburtstagskarte an Faye Collins. Morris hat die Journalistin Diana Winston ausfindig machen können, mit der er am Abend des Mordes angeblich im Kino war. Kurz darauf erhält Morris einen Anruf von dem Revuegirl Kim Marshall. Sie sei in der Lage, ihm den Brief zu verschaffen, den er an Faye geschrieben habe. Sie fordert von Morris 18 000 Pfund für den Brief. Als er aus dem Nachtclub ›Finale‹ nach Hause kommt, ist die Polizei in seiner Wohnung. Diana Winston wurde auf seinem Sofa mit einem Schal erwürgt.«

Ein Publikum, das die labyrinthischen, psycho­analytisch bis psychedelisch verwickelten Plots der heutigen Mystery-Serien im Gefolge von »Twin Peaks« kennt, muss die Durbrigde-Verfilmungen eindimensional und konstruiert finden.

Längliche Inhaltsangaben dieser Art, die nur demjenigen halfen, der die vorangegangenen Folgen zwar gesehen, aber halb vergessen hatte, waren charakteristisch für die bräsig-verrätselten, mit dysfunktionalen Figuren und irrelevanten Indizien überfrachteten Kriminalstücke, die seit den frühen sechziger Jahren das bundesrepublikanische Publikum derart in den Bann schlugen, dass Fußballübertragungen an Zuschauerschwund litten. Da die Menschen plötzlich massenhaft zu Hause blieben, um die nächste Folge nicht zu verpassen – die letzte Episode von »Das Halstuch« sahen, obwohl der Kabarettist Wolfgang Neuss verraten hatte, wer der Täter war, 15 Millionen Zuschauer –, erhielten die Krimis den Namen »Straßenfeger«.

Die Vorlagen der Filme stammten von dem englischen Roman-, Dramen- und Hörspielautor Francis Durbridge. Belegt ist dessen atmosphä­rische Wirkung auf bundesdeutsche Wohnzimmer auch durch den Loriot-Sketch »Inhaltsangabe«, in dem Evelyn Hamann mit den unaussprech­lichen englischen Personen- und Ortsnamen des 16teiligen Kriminalfilms »Die zwei Cousinen« ebenso wenig klarkommt wie mit den verfilzten Handlungssträngen, die sie nacherzählen soll. Wer heute die Inhalts­angaben der Durbridge-Fernsehkrimis nachverfolgt – wer war wessen Schüler, wer war mit wem im Kino, wer hat wen bestohlen, und ist ein Schal eigentlich ein Tuch? –, fühlt sich an Loriots Sketch erinnert. In dessen Erscheinungsjahr lief der letzte Durbridge-Mehrteiler, »Die Kette«, im Fernsehen an. Insofern war die Miniatur von Hamann und Loriot auch das Epitaph auf eine im Absterben begriffene Krimigattung.

Vor dem Erfolg von »Das Halstuch«, das den spröde bis öde agierenden Heinz Drache, der die Rolle von Kommissars Yates spielte, zum Fernsehstar machte, waren zwei sechsteilige Durbridge-Krimis im WDR gezeigt worden: »Der Andere« (1959), ein von wirren Verwechslungen bestimmter Thriller, und »Es ist soweit« (1960), ein kriminalistisches Kammerspiel mit so unerwarteten wie unrealistischen Handlungsumschwüngen. Nach »Das Halstuch« folgten, nunmehr drei- statt sechsteilig, 1965 »Der Schlüssel«, daraufhin 1966 der Beziehungsthriller »Melissa« sowie, von nun an in Farbe, 1970 »Wie ein Blitz«, 1971 »Das Messer« und 1977 »Die Kette«, daneben Verfilmungen von Durbridges Kriminalromanen, die sich um den Gelegenheitsdetektiv Tim Frazer drehten.

Der Wechsel von der Sechs- zur Dreiteiligkeit reagierte auf die Fernsehgewohnheiten des Publikums in einer Zeit, in der das Kino als Zeitvertreib nicht nur preiswerter wurde, sondern auch das Filmangebot vielfältiger, und stärkte die Konsistenz der ins Unbegreifliche ausufernden Handlungsstränge. Ohnehin wäre es abwegig, sich die Durbridge-Mehrteiler als Vorform kriminalistischer Fernseh-Epen im Stil von »The Wire« vorzustellen. Nichts von dem, was diese charakterisiert, findet sich bei Durbridge: keine allmähliche Vertiefung der Figurenzeichnung; keine überraschenden Fokuswechsel in der Erzählung; keine der Komplexität der Gesellschaft abgelauschte Handlungsdynamik. Vielmehr sind Durbridges Plots lineare Labyrinthe: Cliffhanger, Überraschungen und Pointen fügen der am Reißbrett entworfenen Handlung nichts qualitativ Neues hinzu. Es sind komplizierte, aber keine komplexen Krimis.

Um den Erfolg der »Straßenfeger« zu verstehen, hilft ein Blick auf die zeitgleich populär gewordenen Edgar-Wallace-Kinofilme, in denen mit Heinz Drache, Albert Lieven, Siegfried Lowitz, Horst Tappert und Dieter Borsche viele Schauspieler der Durbridge-Reihe mitspielten. Ökonomisch waren die Erfolge der Wallace- und der Durbridge-Reihe einander ergänzende Phänomene. Der deutschsprachige Kinofilm war in Schnulzen wie »Sissi« und witzlosen Komödien mit einstigen Größen des NS-Kinos wie Heinz Rühmann und Theo Lingen versandet, und obwohl Formate wie »Einer wird gewinnen« und »Was bin ich?« bereits existierten, hatte das Ritual der Familienvollversammlung zur Fernsehshow, wie es in den siebziger Jahren mit »Dalli Dalli« und »Der große Preis« beliebt wurde, sich noch nicht etabliert. Wie die Wallace-Filme im Kino, erfüllten die Durbridge-Filme im Fernsehen ein ungestilltes Bedürfnis.

Die Wallace-Filme, fast durchweg in der Bundesrepublik gedreht und die expressionistischen Horrorfilme der Weimarer Republik revozierend, machten Ausflugsziele wie das Berliner Pfaueninsel-Schlösschen zur Kulisse von Gruselgeschichten aus einem fiktiven England, das immer als ein kaschiertes Deutschland erkennbar blieb. Die Durbridge-Filme dagegen spielten in keiner kulissenhaften Fremde, sondern in Innenräumen, in die sich Familienmitglieder und Ehepartner zurückziehen, um sich in selbstgewobenen Intrigen zu verheddern. Während die Wallace-­Filme das vertraute Inland als unheimliches Ausland ausstaffierten, suggerierten die Durbridge-Filme, dass noch das drögeste Eigenheim, wenn es als Tatort betrachtet wird, zur Fremde werden kann, mit deren Entzifferung sich der verkümmerte Verstand die Zeit vertreiben muss.

Die so intimen wie erkalteten Innenwelten der Durbridge-Verfilmungen spiegelten die Wohnzimmerwelten, in denen die Zuschauer auf Sesseln hockten, um der dortigen Enge ein bisschen Spannung zu verleihen. In seinen Kriminalstücken aus den siebziger Jahren, deren Adaptionen die Spätphase der deutschen Durbridge-Filme ausmachten, reflektierte Durbridge diese Allianz von Enge und Rätselhaftigkeit, indem in ihnen, ein wenig wie in Edward ­Albees Theaterstück »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« von 1962 (1966 mit Richard Burton und Elizabeth Taylor verfilmt), die private Zweierzelle zur Kammerspielkulisse wird. Durbridges späte Kriminalstücke orientieren sich erkennbar an Anthony Shaffers populärem Theaterstück »Sleuth«, das 1970 Premiere hatte und 1972 von Joseph L. Mankiewicz mit Michael Caine und Laurence Olivier verfilmt wurde. Um das Pu­blikum auf eine falsche Fährte zu ­locken, nennt die Besetzungsliste Namen von Figuren beziehungsweise Darstellern, die allerdings gar nicht auftreten. Das angekündigte Mehr-Personen-Stück erweist sich schließlich als Zwei-Personen-Stück. Diese Zentralidee von »Sleuth« griff Durbridge auf und variierte sie vor allem in »Suddenly at Home« (1973) und »The Gentle Hook« (1974), deren Verfilmungen ihm in den Achtzigern erneut zu Fernsehpräsenz verhalfen.

Heute sind die »Straßenfeger« vergessen, allenfalls »Das Halstuch« ist noch dem Namen nach bekannt. Ein Publikum, das die labyrinthischen, psychoanalytisch bis psychedelisch verwickelten Plots der heu­tigen Mystery-Serien im Gefolge von »Twin Peaks« kennt, muss die Dur­brigde-Verfilmungen eindimensional und konstruiert finden. Trotzdem haben diese Filme das Fernsehen in seinen dramaturgisch-ästhetischen Grenzen vielleicht besser verstanden als Versuche, Fernsehserien zu postmodernen Odysseen auszuweiten und damit zu verdrängen, unter welchen Bedingungen Fernsehen auch in Zeiten von Netflix fast immer konsumiert wird: privativ, halbkonzentriert, ständig durch den Alltag abgelenkt und im unklaren Bewusstsein, dass nichts, was sich dort ereignet, das eigene Leben verändern wird.