Die deutsche Wirtschaft verlangt nach Arbeitskräften, will ihnen aber keine Zugeständnisse machen

Die knappe Ware Arbeitskraft

Unternehmen und Kapitalverbände klagen über Arbeitskräftemangel. Statt Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern, fordern einige als Lösung lieber die 42-Stunden-Woche.

Im Tourismus, in Gesundheitsberufen und auf dem Bau sei die Lage dramatisch, klagte der schleswig-holsteinische SPD-Landtagsfraktionsvorsitzende Thomas Losse-Müller am Freitag vergangener Woche in Kiel. »Die Lösung muss so groß sein wie das Problem«, es brauche dringend eine Strategie des Landes gegen den in vielen Bereichen zunehmenden Fachkräftemangel.

Und tatsächlich: Im Land zwischen den Meeren fehlen die niedrig entlohnten, häufig nur saisonal Beschäftigten in Hotels und Gaststätten, und das Zubetonieren der Küstenlandschaft stockt. Ähnlich ergeht es Unternehmern in ganz Deutschland. »Der Fachkräftemangel in den Betrieben ist zurück: schneller und in größerem Umfang als von vielen erwartet«, so Achim Dercks, der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), im November vergangenen Jahres bei der Vorstellung des jüngsten »Fachkräftereports« seines Verbandes. »Wir haben bei den Arbeitskräften den Zenit erreicht«, warnt Dercks. Für den Report wurden Antworten von rund 23 000 Unternehmen ausgewertet, 51 Prozent gaben an, sie könnten offene Stellen zumindest teilweise nicht besetzen, weil sich keine passenden Arbeitskräfte bewerben würden.

In einer Marktwirtschaft ist Fach­kräftegewinnung eigentlich kein Hexenwerk. Bessere Arbeits­bedin­gungen und höhere Löhne könnten mehr Arbeitskräfte in die Branchen locken, wo sie benötigt werden.

Die schnelle wirtschaftliche Erholung nach der durch Covid-19 bedingten Zwangspause in vielen Branchen verschärft derzeit den Arbeitskräftemangel. Doch es handelt sich um eine langfristige Entwicklung. Die Generation der Babyboomer gehe bald in Rente und es kämen weniger Arbeitskräfte nach, warnte Axel Gedaschko, der Präsident des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft (GdW), im Handelsblatt. Diese Lücke müsse erst einmal gefüllt werden, »vom Aufbau neuer, zusätzlicher Kapazitäten zu träumen, ist deshalb aus heutiger Sicht weltfremd«. Tatsächlich fehlen die Arbeitskräfte auf dem Bau, die benötigt werden, um die ambitionierten Ziele der Bundesregierung zu erreichen, also wie versprochen jährlich 400 000 Wohnungen neu bauen zu lassen und alte Gebäude energetisch zu sanieren.

In einer Marktwirtschaft, in der Arbeitskraft eine Ware ist, ist Fachkräftegewinnung eigentlich kein Hexenwerk. Bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne könnten mehr Arbeitskräfte in die Branchen locken, wo sie benötigt werden. Es brauche »mehr Aus- und Weiterbildung, gute Arbeitsbedingungen, ­tarifliche Löhne, bessere Vereinbarkeit von Leben, Familie und Arbeit sind die Grundlagen«, so Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zur Jungle World. Der DGB fordere außerdem seit Jahren ein Recht auf Weiterbildung – und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Beispiel Pflege: Obwohl der Bedarf an Arbeitskräften hoch sei, so Piel, »verlassen zu viele den Beruf wegen hoher Belastungen nach wenigen Jahren wieder«. Genügend Personal, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Bezahlung könnten »Hunderttausende Pflegekräfte zurück in ihren Beruf locken oder Teilzeitkräfte dazu anregen, ihre Arbeitszeit aufzustocken«.

Auf der Internationalen Handwerksmesse in München waren am Wochenende solche naheliegenden Lösungen nicht zu hören, stattdessen wurde aus der Chefperspektive über die angespannte Lage gejammert. Zu wenig passgenau ausgebildetes Personal, steigende Energiekosten und Materialmangel machten den Firmen das Leben schwer. Klappern gehört zum Geschäft, und so entwarf eine Sprecherin des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) das Schreckensszenario von einer Viertelmillion unbesetzter Stellen im Handwerk. Bei den Arbeitsagen­turen sind zwar laut ZDH derzeit nur 150 000 offene Stellen im Handwerk gemeldet, aber viele Betriebe würden unbesetzte Stellen nicht melden. »Wenn wir bei der Nachwuchs- und Fach­kräfteversorgung nicht schnellstmöglich gegensteuern, droht nicht nur ein Scheitern der Energiewende, sondern auch ein massiver Wirtschaftseinbruch, ein Verlust an Wertschöpfung und Wohlstand«, sagte Franz Xaver ­Peteranderl, der Präsident des Bayerischen Handwerkstags.

Auf der Internationalen Handwerksmesse saß Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit den Vorsitzenden der großen deutschen Kapitalverbände auf einer Bühne. Der »Arbeits- und Fachkräftemangel ist zur Wachstumsbremse geworden«, klagten die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Deutsche Industrie und Handelskammer (DIHK) und der gastgebende ZDH in ihrer gemeinsamen Erklärung zum »Münchner Spitzengespräch«. In den technischen Berufen seien im April 320 000 gemeldete Stellen nicht besetzt gewesen, vor allem in den Bereich Energie, Elektrik und IT, Schlüsselbranchen für den »Strukturwandel hin zu mehr Digitalisierung und Dekarbonisierung«.

Dagegen solle der Staat etwas tun, doch gleichzeitig müsse er »unternehmerischen Freiraum und die nötige Flexibilität« schaffen und die Maßnahmen dürften »keine zusätzlichen Belastungen und Regulierungen mit sich bringen«. Das Problem müsse also ­gelöst werden, aber ohne Vorschriften und Kosten für die Firmen. Selbstverständlich wünschen die Kapitalverbände keine allgemeine Ausbildungsverpflichtung oder gar eine stärkere Kontrolle der Ausbildungsqualität in den Betrieben – was dringend nötig wäre, wie ein Blick in die Ausbildungsreporte des DGB zeigt.

Eine deutliche Verbesserung der Arbeitsumstände ist nicht im Interesse der Kapitalverbände. Sie fordern lieber Zuwanderung als Lösung – nicht als Menschenrecht auf freie Niederlassung, sondern als Rekrutierung im Interesse der Betriebe. »Deutschland muss sich für Zuwanderung öffnen, wenn wir nicht in eine demographische Falle mit enormen wirtschaftlichen Kosten laufen wollen«, forderte auch Marcel Fratzscher vorige Woche im Handelsblatt. Dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) reicht das vom Bundeskabinett vorige Woche beschlossene neue Aufenthalts- und Arbeitsrecht für geduldete Flüchtlinge nicht aus: »Deutschland braucht dringend grundlegende Reformen des Fachkräftezuwanderungsgesetzes.«

Man könnte freilich auch eine generelle Aufhebung des Arbeitsverbots und der Aufenthaltsbeschränkungen für alle Geflüchteten fordern – so wie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, der sich für die Streichung der bestehenden Arbeitsverbote für Asylsuchende einsetzt, da diese die »soziale und ökonomische Teilhabe« verhinderten. »Zugewanderte dürfen keine Arbeitnehmer zweiter Klasse sein«, fordert auch Anja Piel vom DGB. »Die Koalition muss die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen endlich erleichtern und für faire Vermittlungsbedingungen sorgen. Zugewanderte müssen außerdem gemäß ihren Qualifikationen beschäftigt werden, sonst verschenken wir wertvolle Potentiale.«

Der Staat steht sich beim Arbeitskräftemangel durch die Abschottung des nationalen Arbeitsmarktes selbst im Weg. Und die Kapitalseite will offenbar die Arbeitsbedingungen sogar eher noch verschlechtern. So sagte Siegfried Russwurm, Präsident des BDI, im Juni der Funke-Mediengruppe, er habe »persönlich große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit – natürlich bei vollem Lohnausgleich«. Eine »42-Stunden-Woche wäre sicherlich leichter umzu­setzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70«.

Auch im öffentlichen Dienst verschärft der Staat mit der Orientierung auf geringe Ausgaben und Austerität den Arbeitskräftemangel. So leisten sich die meisten Bundesländer die Absurdität, trotz gravierenden Lehrermangels Lehrerinnen auf Honorarbasis zu beschäftigen – und diese jedes Jahr in den Sommerferien zu entlassen. Ganz vorne ist hierbei Baden-Württemberg, wo sich gerade 4 000 Lehrer arbeitslos melden müssen. Das betrifft zwar nur einen kleinen Teil der rund 827 000 Lehrkräfte in ganz Deutschland, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisiert aber, dass es den Lehrermangel verschärfen könne, wenn prekär auf Honorarbasis Beschäftigte mit geplanter Arbeitslosigkeit frustriert werden.

Zur selben Zeit wandten sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne) in einem Brief an alle regulär beschäftigten Lehrer im Land und baten sie wegen des Personalmangels um freiwillige Mehrarbeit, damit der Unterricht im nächsten Schuljahr sichergestellt werden könne. Die Honorarkräfte werden trotzdem nur als Aushilfen beschäftigt werden – bis zu den nächsten Sommerferien.