Rechtslibertäre träumen von staatenlosen Privatstädten in Unternehmerhand

Gegen Staat, für Kapital

Rechtslibertäre Ökonomen und Aktivisten propagieren sogenannte Privatstädte, in denen die Besitzenden ohne staatliche Kontrolle die Regeln machen sollen. In diesen »anarchokapitalistischen« Netz­wer­ken finden sich auch extrem Rechte und Verschwörungs­­theoretiker.

Eine Utopie des Kapitals am Palmenstrand: Auf der Insel Roatán, die zum Karibikstaat Honduras gehört, sollte Próspera entstehen, die erste sogenannte Privatstadt der Welt. Nicht der Staat Honduras und dessen gewählte Regierung sollten hier das Sagen haben, sondern internationale Investoren mit weitgehender Kontrolle über Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit. Zona de empleo y desarrollo económico (Zone für Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung, kurz Zede), nennt die Regierung von Honduras solche autonomen Selbstverwaltungsgebiete in Unternehmerhand, von denen auch andere in Planung waren (Jungle World 19/2022).

Die Bevölkerung des Landes war nicht durchweg begeistert: Im vergangenen Jahr gab es Proteste gegen die Zede-Gesetzgebung in Honduras. Um die entsprechenden Gesetze überhaupt erlassen zu können, hatte 2012 der damalige Präsident Porfirio Lobo Sosa vier von fünf Verfassungsrichtern entlassen, nachdem die das Gesetz für unzulässig erklärt hatten. Am 21. April 2022 schließlich haben die Kongressabgeordneten in Honduras einstimmig das Gesetz über die Sonderwirtschaftszonen annulliert. Inzwischen ermittelt eine Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Korruption im Zusammenhang mit den Sonderwirtschaftszonen.
Projekte wie die Zede in Honduras sind kuriose Blüten einer radikal neoliberalen Ideologie am rechten Rand des Kapitals, oft Libertarismus genannt. Der Soziologe Andreas Kemper hat in seinem kürzlich erschienenen Buch »Privatstädte – Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus« Netzwerke und Ideologie der selbsternannten »Anarchokapitalisten« beschrieben.

Selbst die Polizei soll durch private Sicherheitsdienste ersetzt werden, Gerichte durch Schiedsgerichte, die ebenfalls gewinnorientierte Privatunternehmen sind.

In Deutschland wirbt beispielsweise der Unternehmer Titus Gebel für Privatstädte. Er steht dem Mises-Institut in München nahe, einem radikal neoliberalen Think Tank. Benannt ist das Institut nach dem Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises, einem 1973 verstorbenen Vertreter der sogenannten Österreichischen Schule. Vom herkömmlichen Neoliberalismus unterscheidet sich deren Ideologie durch die radikale Ablehnung des Staats. Der Neoliberalismus der sogenannten Chicagoer Schule geht zwar auch von der Grundannahme aus, dass unregulierte Märkte die effizienteste Form der Organisierung der Wirtschaft und staatliche Eingriffe zu reduzieren seien, aber diese werden nicht grundsätzlich abgelehnt. Auch mit autoritären Staaten mit starkem Militär und Polizeiapparat kann sich dieser Neoliberalismus arrangieren. So berieten neoliberale Ökonomen der Chicagoer Schule beispielsweise die Pinochet-Diktatur in Chile.

Die Anhänger der Österreichischen Schule, die das Mises-Institut prägen, haben eine andere Utopie: Alles soll privatisiert werden. Selbst die Polizei soll durch private Sicherheitsdienste ersetzt werden, Gerichte durch Schiedsgerichte, die ebenfalls gewinnorientierte Privatunternehmen sind.

»Arbeiterrechte gibt es nicht mehr, Demokratie auch nicht, sondern nur noch knallharten Kapitalismus«, fasst es Kemper im Gespräch mit der Jungle World zusammen. »Es geht um den Schutz des Eigentums der Reichen – mit allen Mitteln.« Kemper bezeichnet diese Ideologie als Proprietarismus, da es im Kern um den Schutz des Eigentums gehe, nicht um Freiheit, wie der Begriff Libertarismus suggeriere. »Wesentlich für diese Ideologen ist ihre Demokratiefeindlichkeit«, sagt er.

Kemper weist auf ein Interview des deutschen Vordenkers des Anarchokapitalismus, Hans-Hermann Hoppe, mit der neurechten Wochenzeitung Junge Freiheit aus dem Jahr 2005 hin. Darin sagte Hoppe, der seiner Einordnung als »bekennender Antidemokrat« nicht widerspricht: »Der Verfassungsschutz weiß doch gar nicht, was er mit mir und meiner Position anfangen soll. Ich befinde mich völlig außerhalb der gängigen politischen Klassifikationsschemata. Zwar bin ich ein Feind des demokratischen Staates, aber zu behaupten, ich sei ein Feind der Freiheit, des Privat­eigentums, der Familie und all dessen, was dem Normalbürger wert und teuer ist, ist absurd.«

Der in Deutschland geborene Hoppe, der bei Jürgen Habermas promoviert wurde und lange Professor für Volkswirtschaftslehre in Las Vegas war, ist in den rechtslibertären Netzwerken eine zentrale Figur. Er gründete 2006 die Property and Freedom Society. Bei deren jährlichen Konferenzen in der türkischen Stadt Bodrum sprachen in den vergangenen Jahren neben Marktradikalen auch Vertreter der US-amerikanischen sogenannten Alt-Right, etwa der Neonazi Richard Spencer. Im Jahr 2021 hielt Thorsten Polleit, Ho­no­rar­pro­­fessor an der Universität Bayreuth und Gründer des deutschen Mises-Instituts, dort einen Vortrag, in dem er auf J. R. R. Tolkiens Fantasy-Roman »Der Herr der Ringe« zurückgriff, um den Kampf der freien Unternehmer gegen den angeblich drohenden Sozialismus mit dem Kampf der freien Völker Mittelerdes gegen den Dunklen Herrscher Sauron zu vergleichen. Sauron repräsentiere demnach den Sozialismus: »Es gibt weder Märkte noch Geld in Saurons finsterem Königreich«, führt der Wirt­schafts­pro­fessor aus. Zu den Gefährten, die sich für die Mächte des Guten gegen den Sozialismus stellen, zählt Polleit auch den erklärten Demokratiefeind Hoppe.

Der Soziologe Kemper weist darauf hin, dass in diesen Kreisen auch ein rassistisches Menschenbild verbreitet sei. Zum Beispiel fänden sich in zahlreichen rechtslibertären Schriften Bezüge auf  angebliche Rassenunterschiede bei der genetischen Vererbung von Intelligenz. Auch Titus Gebel schreibe in seinem Buch »Freie Privatstädte«, dass der positiven Entwicklung »Schwarzaf­rikas« unter anderem »genetische und sogar epigenetische Faktoren« entgegenstünden. »Aber die ethnisch homogene Gesellschaft ist nicht das Kern­anliegen dieser Leute«, so Kemper.

Ein zentrales Anliegen vieler Mises-Jünger ist derzeit der Kampf gegen den Klimawandel – einen Kampf, den sie strikt ablehnen. »Einige sehr bekannte Klimawandelleugner publizieren bei Mises«, sagte der Politikwissenschaftler Dieter Plehwe, der die Wirkungsgeschichte neoliberaler Denkschulen erforscht hat, der Jungle World. In den meisten Ländern hätten die Mises-Jünger allerdings nur einen geringen Einfluss auf die Debatte über Klimaschutz, da es sich um politische Außenseiter handele. Im Widerstand gegen eine internationale Klimapolitik fänden sie allerdings in rechten Parteien Partner.

»Die Mises-Leute haben heute mehr Angst vor internationaler Klimapolitik oder Geldpolitik als vor nationalen Gewerkschaftsbewegungen und sind damit mit dem rechtspopulistischen Neonationalismus kompatibel«, sagt Plehwe. In diesen Zusammenhang passe auch das Konzept der Privatstädte. »Möglichst viele kleine Staaten sind das Ideal, weil dann die Reichweite der staatlichen Übergriffe minimiert wird«, erklärt Plehwe. »Die Privatstädte sind nur der letzte Schrei in einer ganzen Reihe von Versuchen, kleine Freihandelszonen innerhalb größerer Staaten zu schaffen.« Dies sei seiner Ansicht nach bis zu einem gewissen Grad mit den Ideen von Reichsbürgern zu vergleichen.

Der Vergleich trifft: Der Schweizer Unternehmer Daniel Model beispielsweise ist Stiftungsrat der libertären Denkfabrik Institut Zürich, im akademischen Beirat sitzen führende Köpfe des Mises-Netzwerks wie Thorsten Polleit und Philipp Bagus, Professor für Volkswirtschaftslehre in Madrid. 2006 erklärte Model sein Anwesen im Schweizer Kanton Thurgau zum unabhängigen Staat »Avalon«. Dort hat er der österreichischen Staatsverweigerergruppe International Common Law Court of Justice, Vienna (ICCJV) Unterschlupf geboten. Die Gruppe ähnelt in Auftreten und Ideologie den deutschen Reichsbürgern. Anfang dieses Jahres ist Model vor dem Landesstrafgericht Graz beschuldigt worden, als »Friedensrichter« und »führendes Mitglied einen maßgeblichen Einfluss auf den Aufbau der staatsfeindlichen Verbindung« genommen zu haben. Im April ist er zu sieben Monaten bedingter Freiheitsstrafe (im deutschen Recht einer Strafe auf Bewährung vergleichbar) und einer Geldstrafe von 1,8 Millionen Euro verurteilt worden; das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Model hat ­Berufung eingelegt.

Model ist nicht der Einzige aus dem Mises-Dunstkreis, der Nähe zu Rechtsextremen oder Verschwörungstheore­tikern pflegt. Bagus, wissenschaftlicher Beirat des deutschen Mises-Instituts, sitzt zusammen mit dem Geschichtsrevisionisten Thorsten Schulte im Verwaltungsrat des Edelmetall-Handelsunternehmens Elementum. Auf der diesjährigen Mises-Konferenz, die im Oktober in München stattfinden soll, ist auch Gunnar Kaiser als Redner geladen. Der ehemalige Philosophielehrer machte sich als Youtuber im Dunstkreis der »Querdenken«-Bewegung einen Namen.

Das deutsche Mises-Institut hat übrigens dieselbe Anschrift, wie der Goldhandel Degussa. Die Firma war Recherchen des Spiegels am lukrativen Goldhandel der AfD beteiligt, Thorsten Polleit ist ihr Chefökonom. Markus Krall, Geschäftsführer des Goldhandels, sprach sich dafür aus, dass Wahlrecht für Empfänger von staatlichen Trans­ferleistungen abzuschaffen.

Auch andere Rechtslibertäre, die nicht direkt mit dem Mises-Netzwerk verbunden sind, verfolgen ähnliche Projekte: Der Paypal-Gründer Peter Thiel, ein bedeutender Unterstützer ­Donald Trumps, gehört zu den Finanzierern des Seasteading Institute. Dieses hat noch einmal andere Vorstellungen von Privatstädten: Sie sollen auf künstlichen Plattformen in internationalen Gewässern errichtet werden.