Die Linke und die Provokation

Ungerichtet herumrandalieren

Kürzlich provozierte der Influencer Fynn Kliemann mit seinen Äußerungen über die »woke linke Szene«. Provokationen haben tatsächlich einen schweren Stand in dieser Szene, obwohl sie doch einst zum Repertoire der linken Gegenkultur gehörten.

Die in den achtziger Jahren entstandene Musikrichtung des Grindcore klingt für Laien nach einer kaputten, klappernden Waschmaschine. Die Texte und die Albencover sind von Schockelementen, exzessiver, teils sexualisierter Gewalt, aber auch Humor geprägt. In der Dokumentation »Slave to the Grind« von 2018 erzählt Tim Morse, Schlagzeuger der maximal provokanten Band Anal Cunt, wie seine Mutter ihn einmal weinend gefragt habe, was das alles eigentlich solle. Und mit einem gewissen Staunen über sich selbst gestand er, dass er darauf einfach keine Antwort geben konnte. Es war fast wie ein Selbstzweck. Wenn noch keiner es so weit getrieben hat, dann muss es ­jemanden geben, der es tut.

Die Grundregel des Grindcore lautete: Im Zweifel das Gegenteil. Es war eine nonkonformistische Haltung, die reflexartig bestehende Konventionen in Frage stellte. Das Establishment, die Queen oder das System hatte Punk zu diesem Zeitpunkt schon ausführlich provoziert. Homophobe und misogyne Gewaltphantasien waren eine neue Möglichkeit der Grenzüberschreitung. Später hatte sich die Szene auch daran gewöhnt und Anal Cunt provozierten zunehmend mit rechtsradikalen Inhalten. Der Kopf der Band, Seth Putnam, ist mittlerweile an seinem exzessiven Lebensstil gestorben und niemand wird ihn mehr fragen können, ob er wirklich ein Nazi war oder ob er einfach unter dem Zwang stand, die selbstverliebten Leute in der Szene mit genau dem zu ärgern, worauf sie am meisten ansprangen.

Vielleicht gibt es einfach keine feststehenden Gegensätze und Zuordnungen mehr in einer Zeit, in der auch junge FDP-Wähler lieber bio essen und in denen im Dreadlock-Milieu Dreadlocks geächtet werden.

Grindcore gibt es immer noch. Die Cover sind immer noch gewalttätig, die Musik ist immer noch extrem. Seit 35 Jahren das Gleiche. Irgendwann ist alles ausgelotet und die Provokation selbst zur Konvention geworden. Vielleicht ist es auch eine Form von Provokation, wenn jüngere Leute (deren Eltern Hörer von Anal Cunt sein könnten) nun besonders sensibel und rücksichtsvoll auftreten.

Der Fall Fynn Kliemann zeigt eine interessante Werteverschiebung in Bezug auf Provokation, Verantwortungsgefühl und Regelbruch an. Dem Influencer Kliemann wurde kürzlich vom »ZDF Magazin Royale« vorgeworfen, von einer seiner Firmen produzierte Covid-19-Schutzmasken seien anders als behauptet nicht in Europa, sondern unter ausbeuterischen Bedingungen in Vietnam und Bangladesh hergestellt worden; außerdem seien Masken an Geflüchtete gespendet worden, obwohl jene mangelhaft gewesen seien. Mitte Juni echauffierte sich Kliemann dann in einer Instagram-Story darüber, dass die »linke woke Szene« darüber bestimmen wolle, wie Menschen zu sein hätten, und dass jeder, der sich von diesen Leuten nichts vorschreiben lassen wolle, im »Kliemannsland« willkommen sei. Er werde auch weiterhin ­Regeln brechen.

Mit diesem nonkonformistischen Trotz spricht er Werten das Wort, die vor kurzem noch ins progressive, ­alternative Milieu gehört hätten. Er aber vollzieht mit seiner kleinen Rede rhetorisch einen Wechsel von seiner bisherigen Fair-Trade-Wollmützen-Haltung hin zu der eines Rechtspopulisten, der sich nicht die Zigeunersoße vom SUV nehmen lassen will. Wie kann das passieren? Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen ist es eben schon sehr lange nicht mehr wirklich rebellisch, rebellisch zu sein. Wenn Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll oder später Punk tatsächlich mal ein revolutionäres Potential hatten, so ist dieses ja längst in die Verwertungsmaschinerie eingespeist worden. Die Marketingabteilungen wollen ihre Konsumenten triebgesteuert, hedonistisch und undiszipliniert: Tu nicht so erwachsen!

Locker sein, impulsiv sein, spontan sein, Spaß haben, das alles sind Dinge, die in grauer Vorzeit vielleicht mal eine steife, verkrustete Gesellschaft aus der Reserve locken konnten, aber längst vollkommen marktkompatibel sind. Wenn Kliemann also sagt, dass er sich auch zukünftig nicht immer an Regeln halten wird, wirkt das locker und cool und rebellisch. Und es nimmt all jene in Geiselhaft, die dieses Credo so verinnerlicht haben, dass sie gar nicht erkennen, wie wenig es sich mit »Geld machen« beißt. Es ist eine hohle Phrase.

Auf der anderen Seite steht die zunehmende Rigidität im vermeintlich progressiven Milieu. Provokation, Regelbruch und Transgression sind in diesen Kreisen, die diffamierend als »woke« bezeichnet werden, längst nicht mehr positiv konnotiert. Vor einigen Jahrzehnten hätte eine Pandemie möglicherweise ganz anders ausgesehen. Da hätten sich Konservative über die Möglichkeit gefreut, Überwachungsmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen einzuführen, während sich Punks und Hippies auf ihr Recht zu Feiern berufen und heimlich Partys veranstaltet hätten. Jetzt sprechen Porsche-Fahrer von Freiheit und die Linksalternativen fordern Zero Covid. Sie tun dies aus guten Gründen. Es geht um Menschenleben. Es geht, wenn bestimmte Begriffe geächtet werden, um die Würde von diskriminierten Personengruppen. Es geht, wenn Benzinschleudern verurteilt werden, um die Zukunft des Planeten. Aber für Außenstehende wirken die lautesten Protagonisten dieser neuen Ernsthaftigkeit wie religiöse Eiferer, die alle Spuren des falschen Glaubens tilgen wollen.

Vielleicht ist durch den bereits spürbaren Klimawandel die Zeit für Hedonismus und Provokation vorbei. Vielleicht ist das besonders Verantwortungsvolle, Sensible, Erwachsene jedoch seinerseits ein Widerstand gegen eine Elterngeneration, die Grindcore-Platten im Schrank hat, gegen eine Großelterngeneration, die man mit Rock ’n’ Roll nicht schockieren kann, sondern aus dem Ohrensessel holt. Dazu passt auch die aktuelle Normcore-Mode, bei der gezielt alle modischen No-Gos der Elterngeneration ausgepackt werden: Tennissocken in Sandalen, Strickpullover, Ballonseide-Trainingsanzüge und Vokuhilas. Das alles ist das komplette Gegenteil des Rockstars, dessen Ableger Punker, Metalheads und andere Provokateure darstellen. Lange Haare und Parkas richteten sich gegen das Diktat der Anständigkeit und Ordentlichkeit. Blusen, die man vor 20 Jahren höchstens zur Bibelstunde hätte anziehen können, richten sich heute gegen das Diktat der Coolness.

Vielleicht gibt es einfach keine feststehenden Gegensätze und Zuordnungen mehr in einer Zeit, in der auch junge FDP-Wähler lieber bio essen und ihren Säuglingen Strampler aus 100 Prozent natürlichen Materialien anziehen, die Toten Hosen auf CDU-Siegesfeiern gespielt werden, grüne Ministerpräsidenten ihren Mercedes preisen und im Dreadlock-Milieu Dreadlocks geächtet werden.

So fragt man sich, was aus der guten, alten Provokation werden soll, wenn der Regelbruch zum Marketinginstrument und jede Grenzüberschreitung im Kulturbetrieb bis ins letzte, schleimige Detail ausgeleuchtet geworden ist. Wer braucht heute noch schockierende Performance-Kunst, bei der sich Nackte schreiend in Blut wälzen? Wer braucht noch einen gnadenlosen Kriegsfilm, der das Grauen jetzt aber wirklich un­geschminkt zeigt? Wer braucht das vierzigtausendste Album, auf dessen Cover mit einer Frauenleiche kopuliert wird? Was nützt Rock ’n’ Roll, wenn er aus dem Surround-System eines Porsche tönt?

Die Provokation, der Regelbruch, haben ein progressives und kreatives Potential. Wo es keine Provokation geben darf, herrschen starre Regeln und rigide Vorstellungen, unorthodoxes Denken wird unterdrückt. Die – vielleicht altmodische – Grundhaltung, Konsens zu hinterfragen und besonders einhellige Ansichten zu erschüttern, hat immer noch ihren Reiz. Auch die »Woken« mit ihren guten Absichten sind nicht vor Selbstverliebtheit, Intoleranz und Gruppendynamik gefeit. Auch sie können jemanden gebrauchen, der sie schon aus Prinzip in Frage stellt.

Aber, und das macht die neue Situation so vertrackt, Provokation ­gegen die allzu rigiden Teile der »woken Bubble« trifft fast automatisch die Falschen. Es ist normal, sich darüber zu ärgern, wenn Besserwisser einen zurechtweisen, als ginge es um die Reinigung von einem religiösen Tabubruch (man denkt an die Jehova-Szene aus »Das Leben des Brian«). Aber als Reaktion darauf zur plumpen Provokation zu greifen, kann schaden. Das ist die Haltung, aus der heraus der Kabarettist Serdar Somuncu 2020 in einem Podcast mit rassistischen Begriffen um sich warf. Damit beleidigte er aber Menschen, die eigentlich gar nicht gemeint waren.

Und deswegen ist die Provokation kein Selbstzweck mehr. Sie kann benutzt werden, um Menschen zu diskriminieren, um sinnlose Produkte zu verkaufen oder um kriminelle Geschäftspraktiken zu rechtfertigen. Es bleibt paradox: Provokation kann nur da Gutes bewirken, wo sie etwas Schlechtes aufbricht. Aber sobald sie zielgerichtet eingesetzt wird, sobald »das Schlechte« schon definiert ist, verkommt sie zum taktisch genutzten Instrument einer Ideologie oder persönlicher Interessen. Ihr Potential entfaltet sie nur, wenn sie ungerichtet herumrandalieren darf und dabei auf unerwartete Hindernisse stößt, die anders nie ins Bröckeln geraten wären.

Es wird die Aufgabe von Künstlerinnen und Künstlern sein, zukünftige neue Formen von Provokation zu finden. Vielleicht gibt es welche, die Serdar Somuncu, Ulf Poschardt und Malcolm Ohanwe gleichermaßen ärgern.