Ein Gespräch mit der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera über unabhängige Kunst und Repression in Kuba

»Wir zerstören den Mythos der Kubanischen Revolution«

Auswanderung, Proteste und Unruhen - die Unzufriedenheit in Kuba wächst. Tania Bruguera, international bekannte Performance-Künstlerin und Dozentin an der Harvard University, spricht über künstlerische Dissidenz und die schärfer werdenden staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen. Sie ist mit dem von ihr initiierten Kunstkollektiv Instar derzeit auf der Documenta fifteen in Kassel vertreten.
Interview Von

Sie sind dieses Jahr zum zweiten Mal bei der Documenta, das erste Mal waren Sie 2002 bei der Documenta 11 in Kassel. Diesmal nehmen Sie als Mitglied des von Ihnen gegründeten Kunstkollektivs Instituto de Artivismo Hannah Arendt (Institut für Kunstaktivismus Hannah Arendt, Instar) teil. Was unterscheidet diese Documenta künstlerisch von der 2002?

Die grundsätzliche Ausrichtung. Hier ist die kommerzielle Kunst weniger stark präsent, Galerien, die ihre Künstlerinnen und Künstler und deren Arbeit vermarkten, sind kaum vertreten. Diese Documenta ist eine der politischen Kunst, einer Kunst, die gesellschaftliche Prozesse kritisiert, Widersprüche sichtbar macht, sich für den Wandel engagiert. Da passen wir als Instar gut hinein.

Trotzdem dominiert die Kritik an der Documenta fifteen, insbesondere wegen der antisemitischen Karikaturen.

Ja, leider. Das widerspricht meinem Kunstverständnis. Für mich ist Kunst ein Instrument für politische und soziale Aktionen, um politische und persönliche Machtverhältnisse zu analysieren und zu reflektieren. Das ist nützliche Kunst, davon gibt es hier auf der Documenta reichlich und das ist positiv. Ich bin froh, dabei zu sein, froh, dass die Documenta einem kollektiven, politischen Kunstansatz eine Bühne gibt. Das setzt der Kunst als Wertanlage ein kollektives, auf Diskussion und Auseinandersetzung basierendes kritisches Kunstverständnis entgegen. Galerien und Sammler sind nicht ausgeschlossen, können sich progressiv beteiligen.

»Seit dem 11. Juli vergangenen Jahres haben mehr als 150 000 Menschen das Land verlassen, und es werden immer mehr.«

Das von Ihnen initiierte Kunstkollektiv Instar zeigt eine Leistungsschau kritischer, unabhängiger Kunst von Beginn der neunziger Jahre bis etwa 2014, mit Diskussionsveranstaltungen, Filmvorführungen und ­Lesungen. Wie ist die Resonanz?

Gut, wir haben eine gute Presse und es gibt viele Nachfragen der Besucherinnen und Besucher. Sie sind jedoch oft schockiert, denn wir zerstören quasi den Mythos der Kubanischen Revolution. Dass diese aufgehört hat zu existieren, zeigen wir etwa in einem Raum mit den Namen von mehr als 260 Künstlerinnen und Künstlern, die zensiert, schikaniert und kriminalisiert wurden. Wir haben Bilder der Gesichter einiger dieser Künstlerinnen und Künstler auf Papiertüten geklebt und auf Stöcken befestigt. Diese Repression ist hier oft unbekannt, viele hören und sehen das zum ersten Mal.

Ich bin erfreut über die positiven Reaktionen, auch wenn das nicht so überraschend ist, denn die ehemalige DDR ist ein Teil Deutschlands und der dortige Geheimdienst hat gemeinsam mit dem KGB das kubanische Pendant, die Seguridad Estatal, die Staatssicherheit, aufgebaut.

Was gibt es noch von Instar?

Wir haben zwei Räume zur Verfügung: den eben beschriebenen und einen weiteren, den wir alle zehn Tage neu gestalten. Wir haben anfangs an eine klassische Zeitleiste der Entwicklung der kritischen Kunst in Kuba zwischen 1990 und 2014 gedacht, mit fixen Daten, Chronologien, Fakten und Co. Davon sind wir zugunsten einer emotionalen Zeitleiste abgekommen. Wir stellen jetzt alle zehn Tage um und präsentieren ein Kunstprojekt: die Kunst des ­kubanischen Projekts »Omni – Zona Franca«, das mit Performances im ­öffentlichen Raum für Aufregung gesorgt hat, das Rotilla-Festival, das von unten entstand und elektronische Musik in Kuba etablierte, sowie unabhängige Galerien, Dichter, Cineasten und Maler. Es wird viele Auftritte, Lesungen und Vorführungen im Rahmenprogramm geben.

Derzeit steht dort eine der ersten unabhängigen Galerien im Fokus, richtig?

Espacio Aglutinador heißt sie und ist mehr als eine Galerie, es ist ein Ort der Kunst, eingerichtet im Haus von Sandra Ceballos, die wir nach Kassel eingeladen haben. Mit einfachen Mitteln lassen wir hier die Galerie wiederauferstehen. So ähnlich werden wir auch Omni – Zona Franca, das Rotilla-Festival und das ­Projekt Peña del Júcaro Martiano aus Camagüey präsentieren, allesamt für uns sehr wichtige und wertvolle künstlerische und politische Initiativen.

Sie haben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die Ausstellung geführt.

Das war ein Zufall, für uns natürlich ein Glück, denn ich konnte ihm über die jüngsten Urteile gegen Maykel »Osorbo« Castillo und Luis Manuel Otero Alcántara berichten, die Ende Juni dieses Jahres zu neun beziehungsweise fünf Jahren Haft verurteilt wurden. Beide haben kritische Kunst präsentiert, sich für die Freiheit der Kunst und gegen Repression engagiert und sitzen nun in Haft. Dem Bundespräsidenten konnte ich auch das Video des kubanischen Kulturministers zeigen, in dem er einen jungen Künstler schlägt und dessen Handy erwischen will. Ich habe die Chance genutzt und hatte den Eindruck, dass da viel angekommen ist, und war überrascht, dass er sich recht viel Zeit genommen hat.

Kurz vor dem Auftakt der Documenta waren Sie in Genf, um dort die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet gemeinsam mit dem exilierten kubanischen Künstler Hamlet Lavastida zu besuchen. Worum ging es?

Um den Aufbau eines kontinuierlichen Dialogs zwischen der kubanischen Zivilgesellschaft und dem UN-Menschenrechtskommissariat. Es kommt nicht oft vor, dass eine UN-Kommis­sarin Künstlerinnen und Künstler empfängt, die kriminalisiert und schikaniert wurden. Wir haben unsere eigenen Erfahrungen umrissen, über die Situa­tion auf der Insel und das Regime gesprochen, das die Rechte der Bevölkerung kontinuierlich verletzt. Das ist extrem wichtig, weil Kuba in den UN gut etabliert ist.

Sie haben mit Bachelet sicherlich auch über den 11. Juli 2021 gesprochen, den Tag der regierungskritischen Proteste in Kuba. Im Zuge der Proteste wurden zahlreiche Menschen verhaftet, von denen mittlerweile viele zu Haftstrafen verurteilt worden sind. Was bedeutet dieser Tag für Sie persönlich?

Der 11. Juli 2021 war ein Tag der Hoffnung, denn ich und viele andere ­hatten schlicht nicht damit gerechnet, dass sich aus einem lokalen Protest in einem Vorort von Havanna, San Antonio de los Baños, eine Protestwelle entwickelt, die sich über Facebook wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat. So viele Menschen gingen auf die Straße, ohne darüber nachzudenken, was das für Konsequenzen haben könnte. Die Leute protestierten gegen eine Regierung, von der sie schlicht die Nase voll haben. Das war ein emotionaler Akt, keine ­rational geplante Aktion. Eine spontane Reaktion auf etliche Missstände.

Die Reaktion kam prompt und war typisch für ein totalitäres System: Repression. An diesem Tag wurde jeder Zweifel beseitigt: Kuba ist eine Diktatur, deren wirtschaftliche Basis sehr ineffektiv ist. Das belegen die Versorgungsprobleme, die die Menschen in Atem halten. Das tägliche Schlangestehen für Lebensmittel zermürbt die Leute. Kuba verarmt, auch kulturell, geistig und menschlich, denn die Leute gehen weg. Ausreise ist heutzutage das dominierende Thema. Seit dem 11. Juli vergangenen Jahres haben mehr als 150 000 Menschen das Land verlassen, und es werden immer mehr.

Die Bilder der Repression gingen um die Welt, die Prozesswelle, die noch immer läuft, hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß. Bis zu 30 Jahre Haft wurden verhängt – warum fallen die Strafen so hoch aus?

Für mich ist es ein Beleg der Angst. Die Regierung reagiert vollkommen unangemessen, weil sie Angst hat, die Macht zu verlieren, und die Bevölkerung erneut einschüchtern will. Die Menschen haben keine Angst mehr, die Regierung braucht Angst aber, um eine Gesellschaft einzuschüchtern. Sie versucht, mit harten Strafen die Angst zurückzubringen – ich glaube aber nicht, dass das lange funktionieren wird.

Ist die Strafrechtsreform, die Mitte August in Kraft treten wird, ein Beispiel dafür, dass die Regierung diese Strategie dennoch weiter ­verfolgt?

Ja, ohne Zweifel, und sie ist das Schlimmste, was uns passieren konnte. Die Regierung hat, initiiert noch unter Raúl Castro, begonnen, die Zensur auszuweiten. Seit der Amtsübernahme von Präsident Miguel Díaz-Canel hat all das zugenommen. Die internationalen Proteste gegen die Welle von Prozessen, die internationalen Rechtsnormen nicht entsprechen, belegen das. Das neue Strafgesetzbuch ist so etwas wie die letzte Patrone des Regimes. Es kriminalisiert unabhängige Organisationen in der Kultur sowie alle Medien, die Geld aus dem Ausland empfangen und alle unabhängigen Journalisten; obendrein steht auf 24 Delikte die Todesstrafe. Es ist ein Instrument der Repression.

Hinzu kommt die Ausweitung der Polizeiwillkür. Drei Tote durch Polizeikugeln in rund zwei Jahren, wobei die Täter nicht belangt wurden, sind ein weiterer Skandal, den ich früher nicht für möglich gehalten hätte. Der letzte Fall ereignete sich Ende Juni 2022 in Santa Clara. Dort wurde ein schwarzer 17jähriger erschossen. Er hatte bereits an den Protesten vom 11. Juli 2021 teilgenommen.