Bäder gehören zur öffentlichen Daseinsfürsorge

Freier Schwimmen ohne Bäder

Öffentliche Bäder sollen auch jenen das Schwimmen ermöglichen, die keinen eigenen Pool im Garten haben. Dementsprechend wenig wird in sie investiert.

Endlich wieder Sommerloch! Schluss mit all diesen deprimierenden Nachrichten von neuen Virusmutanten! Schluss auch mit offenen Briefen eitler deutscher Fernsehphilosophen und Intellektuellendarsteller! Und selbst die fortlaufenden Kriegsgräuel in der Ukraine werden derzeit vom Empörungsgeplärr zwischen Protestantismus und Putinismus oszillierender vorgeblicher Friedensfreunde über eine Fotostrecke mit dem Ehepaar Selenskyj in der Modezeitschrift Vogue gnädig überlagert. Im Sommerloch darf die Notbesetzung in den Redaktionen endlich ungehemmt ihrer Leidenschaft für bunte Themen frönen: Veganes Grillen, Sport-Events und die alles entscheidende Frage, ob Schweizer Dreadlocks tragen dürfen. Damit die Leute angesichts dieser geballten Nichtigkeit nicht schon beim ersten Bericht wegdämmern, braucht es allerdings ein paar kleine Aufreger, die sie dort abholen, wo sie sich dieser Tage gerne aufhalten – am Wasser. Seit 1994 ein kleiner Kaiman seinem Besitzer ausbüxte, sind beispielsweise Krokodilsichtungen an Badeseen sehr beliebt. Zur Not tun es aber auch Riesenwelse, die Schwimmern zu nah kommen. Hauptsache irgendwas mit Badesee.

Weniger geeignet für erbauliche Nachrichten im Sommerloch sind Freibäder. Das liegt nicht allein an der deutlich geringeren Biodiversität der dort heimischen Fauna (Wespen am Pommesstand und vereinzelte Ratten in den Abendstunden), sondern vor allem daran, dass in Freibädern, so jedenfalls das gängige Ressentiment, vor ­allem die für Anzeigenkunden relativ uninteressante Plebs Abkühlung sucht.
Leute mit Kaufkraft fliegen auf die Kanaren oder Balearen oder fahren ihre Kinder und deren sechs Meter große Gummitiere zumindest mit dem SUV zum nächsten Badesee. Wenn sie doch mal in ein Bad gehen, dann höchstens in einen dieser privat finanzierten, übergroßen Erlebnisparks, wo der Preis fürs Tagesticket mindestens zehn Prozent des Hartz-IV-Regelsatzes beträgt. So bleibt man sozial unter sich und muss sich weder mit verrottenden ­Sanitärbereichen noch mit all den migrantischen Gewalttätern herumschlagen, die – das belegen zwei aktuelle Vorkommnisse in Berlin – in deutschen Freibädern längst die Kontrolle übernommen haben.

Jedenfalls, wenn man Peter Harzheim glaubt, dem Präsidenten des Bundesverbands Deutscher Schwimmmeister, der kürzlich der Bild-Zeitung erklärte: »Ich habe selbst drei kleine Enkelkinder – wenn ich mit denen da herein­gehen würde, würde ich schlicht unverantwortlich handeln!« Ein Satz, bei dem man unweigerlich an das brillante U-Bahn-Poem des Bild-Kolumnisten Franz Josef Wagner aus dem Jahr 2008 denken muss, der sich mit der damaligen Justizministerin Bri­gitte Zypries (SPD) die dortigen Zustände angeschaut hatte: »In der U-Bahn riecht es nach abgestandenem Leben. (…) Meine Tante würde ohnmächtig werden. Ich stelle mir vor, wie ich blutüberströmt zu der Notrufsäule krieche. Unter der Erde Berlins herrscht ein anderes Leben. Es ist nicht mein Leben.«

Leute mit Kaufkraft fliegen auf die Kanaren oder Balearen oder fahren ihre Kinder und deren sechs Meter große Gummitiere mit dem SUV zumindest zum nächsten Badesee.

Immerhin, Wagner macht seine Angst und Abscheu vor der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht am Migrationshintergrund der Mitnutzer fest, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) anlässlich der beiden Schwimmbadprügeleien nun unbedingt meint benennen zu müssen, »damit die Menschen sehen, dass wir das ernst nehmen und uns nicht wegducken«. Wagner scheut einfach den Kontakt mit Menschen, die so arm sind, dass sie kaputtgesparte öffentliche Infrastruktur nutzen müssen, statt sich mit dem Taxi von der »Paris Bar« ins Privatbad irgendeines befreundeten Villenbesitzers am Wannsee chauffieren zu lassen.

Die Sozialdemokratin Faeser hingegen stellt sich mit ihrer Erklärung ohne genauere Prüfung der kolportierten Vorkommnisse ratzfatz auf die Seite derer, die stets bereit sind, die soziale Frage blickdicht in kulturalistisch-rassistische Ressentiments zu verpacken. Obwohl auch Sport zu ihren Zuständigkeiten zählt und der Ausbau steuer­finanzierter öffentlicher Einrichtungen doch einstmals fester Teil des sozialdemokratischen Wertesystems war, verweist sie nicht darauf, dass seit Jahren immer mehr Bäder schließen müssen, weil ihre kommunalen Betreiber die Finanzierung nicht mehr gestemmt kriegen, und der ebenfalls marode Rest daher des wachsenden Andrangs schlichtweg nicht mehr Herr wird. Statt die Sanierung bestehender und den Bau neuer Bäder voranzutreiben, um die Lage zu entspannen, will sie lieber in Sicherheitsdienste und »hinreichend Polizeipräsenz« (Faeser) investieren, auf dass die Plebs unter strenger Aufsicht in den verrotteten Anlagen weiterplanschen kann, ohne den besserverdienenden Rest der Gesellschaft mit ihrer lausigen Existenz zu nerven.

Diese neoliberale Idee von Gesellschaft wäre natürlich nicht so erfolgreich, wenn sie nicht auch wohlklingendere Vorschläge parat hätte. Einen solchen durfte Kolumnistin Sabine Rennefanz unter dem Titel »Bürgerenga­gement rules!« gerade den geneigten Lesern des Berliner Tagesspiegel am ­Beispiel des britischen Ferienorts Penzance präsentieren. Das runtergekommene Freibad dieser rund um ihren mondänen Jachthafen sicher sozial krass durchmischten Metropole mit 21 000 Einwohnern sollte eigentlich abgerissen werden, schreibt Rennefanz. Doch die Bürger der Stadt hätten selbst Verantwortung übernommen, Lottogelder und Zuschüsse einer ökologischen Stiftung akquiriert, den Rest der umgerechnet zwei Millionen Euro teuren Investition dann aus ihren privaten Sparschweinen draufgepackt und sich damit sogar noch Besitzanteile erworben.

Jetzt ist alles schick, und Rennefanz’ Augenscheinbewertung zufolge braucht es nicht mal eine Security. So müssten sie es eben auch machen, die Sozialleistungsempfänger und Geringverdiener, die im Sommer in den Berliner Freibädern zurückbleiben, während ihre begüterteren Nachbarn vom eigenen Steg in die Müritz hüpfen! Ansonsten sind sie selber schuld und dürfen nicht jammern, wenn man ihnen ihre Bäder demnächst ganz dichtmacht, um Gas zu sparen, wie Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK), kürzlich vorschlug.

Dumm nur, dass nahezu alle Kinder dieses Landes das Schwimmen nicht im Mittelmeer oder in der Müritz lernen, sondern meist unter Aufsicht der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) in genau jenen seit Jahrzehnten auf Sanierung wartenden ­Bädern, von denen jedes Jahr weitere außer Betrieb genommen werden. So kommt es, dass die Zahl der Nicht- oder Schlechtschwimmer bereits vor den Einschränkungen während der Covid-19-Pandemie kontinuierlich wuchs. Schon 2017 ergab eine Forsa-Umfrage, dass knapp 60 Prozent der Zehnjährigen nur unzureichend schwimmen können. Kein Wunder, denn rund 25 Prozent der Grundschulen verfügen inzwischen nicht mehr über Zugang zu einem Bad. 2021 appellierte daher Ingbert Liebing, Chef des Verbandes kommunaler Unternehmen, an die Verantwortlichen in Bund und Ländern, endlich »für eine langfristig sichere Finanzierung zu sorgen«. Gehört wurde sein Ruf selbstverständlich nicht, ist doch das grün-liberale DIY-Bürgerengagement, das Sabine Rennefanz in ihrer Kolumne abfeiert, längst für alle relevanten Parteien der Königsweg, um die Budgets für immer mehr jener Gemeinschaftsaufgaben, für die der Staat eigentlich Steuergelder bekommt, weiter kürzen zu können.

Wer unter dem Titel »Spritpreisbremse« die Mineralölkonzerne pampern oder mal fix 100 Milliarden Euro im Sanierungsgrab Bundeswehr versenken möchte, zugleich aber nicht bereit ist Unternehmens- und Erbschaftssteuer anzuheben oder gar die Vermögenssteuer wieder einzuführen, muss eben anderswo sparen.

Klar könnte man argumentieren, dass in einem Land, in dem auch die Schulen zusehends verfallen und Kinder teilweise seit Jahren in Containern unterrichtet werden, das Schwimmenlernen ein nachgeordnetes Problem sei. Doch dass beides schwer voneinander zu trennen ist, wussten schon die alten Römer. »Stultus neque scribere neque natare scit«, hieß es bei ihnen: »Ein Narr kann weder schreiben noch schwimmen.« Leider kamen dann unsere barbarischen Vorfahren des Wegs, die in all den prächtigen öffentlichen Bädern der Römer, für die Arme übrigens keinen Eintritt zahlen mussten, wohl ein Zeichen jener »spätrömischen Dekadenz« sahen, die noch 2010 der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle beklagte. Also schlugen sie in Windeseile alles kaputt, um für die nächsten paar hundert Jahre ungewaschen und des Lesens unkundig in zugigen Burgen zu hausen.

Wie viele von ihnen jährlich beim sommerlichen Planschen in knietiefen Tümpeln ertranken, wissen wir leider nicht. Aber immerhin taten sie es in freier Selbstverantwortung und mussten sich vorher nicht mit jungen Migranten prügeln. Auch tödliche Attacken von Riesenwelsen oder entwichenen Krokodilen sind auszuschließen. Es gab ja weder Zeitungen noch Fernsehen und also kein Sommerloch.