Zum ersten Mal im Leben Antidepressiva

Kein guter Sommer

Die erste Sommerwelle der Covid-19-Pandemie rollt fast ungebremst durchs Land. Neben der ständigen Gefahr einer Coronainfektion kann das auch auf die Psyche schlagen.
Bodycheck - Die Kolumne zu Biopolitik und Alltag Von

Tja, nun hat es mich doch erwischt. Nein, nein, eine Covid-19-Infektion habe ich bislang dank viel Vorsicht, Verzicht und vier Impfungen vermieden. Aber nach Brustkrebs, Chemotherapie, Operation, Bestrahlung und zwei Berliner Coronawintern, konfrontiert mit andauernden Nebenwirkungen der vergangenen Therapien und der derzeitigen Antihormontherapie, außerdem der Covid-Sommerwelle, die gesteigerte Lebensfreude und soziale Aktivität für Leute, die sich nach wie vor nicht anstecken wollen, schon wieder erstickt, hat mich die Erkenntnis ereilt, dass ich mit ein bisschen Selbstsorge und viel Willenskraft nicht auskomme: Ich warte nicht mehr länger ab, dass es besser wird, sondern nehme Antidepressiva.

Zum ersten Mal in meinem Leben – bisher habe ich das vermieden, weil ich dachte, so schlimm ist es ja eigentlich nicht. Dabei begleiten mich Antriebsstörungen, Panikattacken und Depressionen schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Ich habe das aber sehr lange für normal gehalten und versucht, die Symptome mit Selbstmedikation und Willenskraft zu bekämpfen. Therapien habe ich auch schon gemacht, aber derzeit ist das keine Option, dafür reicht die Energie nicht.

Also Psychopharmaka gegen die Depressionen und Angststörungen, in der Hoffnung, dass sie schnell wirken. Bislang gibt es leider hauptsächlich Nebenwirkungen, aber eine Nacht habe ich fast durchgeschlafen – ist das schon eine Wirkung? Schwer zu sagen, aber ich bin auch noch nicht auf dem Spiegel, den das Medikament aufbauen muss. Vielleicht muss ich auch noch mal das Präparat wechseln – welche Medikamente wem helfen, kann man vorher leider nicht wissen.

Ein bisschen wurmt es mich, dass es jetzt sein muss, schließlich bin ich durch den viel schlimmeren Krebskram ganz gut durchgekommen. Aber das war auch ein Ausnahmezustand: Man soll sich ausruhen, Leute kümmern sich um dich. Das ist nach dem Ende der Akuttherapien, wenn man auch wieder arbeiten geht, nicht mehr so, auch nicht für mich selbst – schließlich habe ich viel verpasst, am liebsten würde ich also wieder loslegen, Leute treffen, konzentriert lesen, feiern gehen. Aber: Die Kräfte sind nicht wieder da, der Antrieb ist dahin und meiner sozialen Angststörung tut die fortwährende Pandemie auch nicht gerade gut.

Ach, die Pandemie. Dieser Sommer ist objektiv schlimm, nicht nur wegen der Sommerwelle, in der der offenbar hochansteckende Omikron-Subtyp BA.5 fast ungebremst und ohne verbindliche Tests durchrauscht. Umso schlimmer, dass Teile der Bundesregierung – looking at you, FDP – und große Teile der Bevölkerung Covid-19 kaum noch als Gefahr wahrzunehmen scheinen. Wie kann es sein, dass ich jetzt für das Einkaufen im Supermarkt ein risk assessment machen muss wie im vergangenen Sommer für eine Party?

Eigenverantwortung ist das Stichwort, unter dem die Liberalen Coronapolitik machen wollen, aber wie soll man verantwortliche Risikoentscheidungen treffen, wenn man die Voraussetzungen nicht kennt? Zwischen Verzichten, denn better safe than sorry, und einfach Machen, in der Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm werden wird, gibt es kaum begründbare Abstufungen, zumindest nicht, wenn es um Menschenmengen geht.

Weiterhin habe ich vor einer Covid-19-Infektion an sich keine große Angst, obgleich es sicherlich kein Spaß wäre, mit einer akuten Depression mehrere Tage in Isolation zu verbringen, selbst bei einem harmlosen Verlauf. Schwerer wiegt aber meine Sorge, Long Covid zu entwickeln, was nicht nur wegen des geschwächten Immunsystems, sondern auch wegen Alter und Geschlecht eine relativ große Gefahr ist. Und allein die Vorstellung davon, wie die Wochen nach einer Erkrankung aussehen würden, wenn ich mir bei jedem Sym­ptom noch mehr als derzeit die Frage stellen würde, woher die Erschöpfung nun kommt, motiviert mich mehr als genug, weiterhin vorsichtig zu sein.

Es ist zweifellos verständlich, dass die Leute sich freuen, wieder feiern und ausgehen zu können, auf Festivals, CSDs, Sexpartys. Leider tun das viele um den Preis, die damit verbundene Gefahr zu verharmlosen. Auch das ist psychologisch verständlich, aber gesellschaftlich gefährlich.

In diesem Sommer muss ich noch seltsamere Gespräche mit Leuten führen, die ich in Innenräumen treffen oder zu denen ich körperliche Nähe haben will, als im vergangenen Sommer. Im Vorjahr war die Standardfrage, ob und wie häufig die Leute schon geimpft sind – das war einfach zu fragen und zu beantworten. In diesem Sommer geht es darum, herauszufinden, wie sich die Leute im Alltag verhalten – das ist viel schwieriger und unangenehmer. Ich will nicht mit Menschen beim ersten Date darüber sprechen, ob sie im Supermarkt Maske tragen – aber ich will auch nicht mit Leuten vögeln, die sich für safe halten, weil sie dreimal geimpft sind. Im vergangenen Sommer konnte ich wenigstens tanzen gehen, weil die Clubs auf Outdoor-Aktivitäten ausgewichen waren. Dieses Jahr ist alles wieder so »normal«, dass es solche Angebote kaum mehr gibt.

Einmal war ich kürzlich drinnen mit Maske tanzen. Das war zwar schön, ich kam mir aber wie der böse Geist vor, der alle an die Pandemie erinnert, die sie lieber vergessen wollen. Meine Psyche hat also auch mit den gesellschaftlichen Bedingungen ganz schön viel zu tun – ich hoffe, dass die Medikamente da individuell helfen.