1992 veröffentlichten ­Advanced Chemistry »Fremd im eigenen Land«

Die Menschenanzünderjahre

1992 kam es in ganz Deutschland zu rechtsextremen Übergriffen und Morden, nicht nur in Rostock-Lichtenhagen. Die HipHop-Band Advanced Chemistry veröffentlichte damals ihr rassismuskritisches Lied »Fremd im eigenen Land« – ein bis heute in seiner Radikalität seltenes Stück.

32 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten firmiert die Ära, die unmittelbar folgte, unter dem das Richtige meinenden, aber untertreibenden Begriff »Baseballschlägerjahre«. Mit Blick auf das Ausmaß rechtsextremistischer Gewalt, die damals bundesweit zu verzeichnen war, treffen »Menschenabstecherjahre« und »Menschenanzünderjahre« den damaligen politischen Zustand des Landes schon eher.

Als im August 1992 ein »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« grölender Mob die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen in Anwesenheit von Polizei und Feuerwehr sowie Tausenden Beifall klatschender Zuschauer in Brand setzte, gingen die Bilder davon um die Welt. Dass die rund 100 vietnamesischen Bewohner des sogenannten Sonnenblumenhauses nicht lebendigen Leibes verbrannten, war einzig dem Umstand geschuldet, dass sie den verriegelten Zugang zu einem anderen Gebäudeteil aufbrechen und von dort entkommen konnten.

Rostock-Lichtenhagen und die deutsche Gesellschaft 

Ohne Pathos lässt sich festhalten, dass kaum ein in Deutschland lebender migrantischer und/oder jüdischer Mensch, der damals alt genug war, um zu begreifen, was sich abspielte, diese Szenen vergessen haben wird. Dass es sich um eine Zäsur handelte, hat sich bis heute allerdings noch nicht einmal unter Linken als Erkenntnis durchgesetzt, vom Rest der deutschen Gesellschaft ganz zu schweigen. An das Pogrom wird diesen Sommer zwar von der Stadt Rostock mit zahlreichen Veranstaltungen erinnert, nicht aber auf ­Bundesebene. Das wäre jedoch schon deshalb geboten, weil die Umzin­gelung des »Sonnenblumenhauses« keinesfalls ein auf Rostock beschränktes Problem war, sondern der Höhepunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung, die Rassismus und Antisemitismus mit mörderischem Selbstbewusstsein hervortreten ließ.

Rostock vorangegangen war etwa der Brandanschlag auf eine Asyl­bewerberunterkunft in Lampertheim, bei dem im Januar 1992 eine dreiköpfige Familie aus Sri Lanka ums Leben kam. Im Mai belagerte ein Mob eine Woche lang ein Sammel­lager für Flüchtlinge im Mannheimer Stadtteil Schönau. In Mölln wurden bei einem Brandanschlag im November drei Angehörige einer türkischen Familie ermordet, darunter zwei Kinder. Der Pressesprecher von Bundeskanzler Helmut Kohl begründete dessen Abwesenheit von der Trauerveranstaltung mit den Worten, ein »Beileidstourismus« sei zu vermeiden.

1992: rassistische und antisemitische Gewalt in ganz Deutschland

Neben diesen bekannten Tatorten kam es 1992 auch in Saal, Güstrow, Wismar, Lübbenau, Eisenhüttenstadt und Quedlinburg zu Ausschreitungen, an denen sich teils mehrere hundert Rechtsextremisten beteiligten. In Magdeburg überfielen Neonazis eine Geburtstagsfeier und verletzten den 23jährigen Punk Torsten Lamprecht so schwer am Kopf, dass dieser kurz darauf starb. Das gesamte Jahr über wurden fast im gesamten Bundesgebiet zahlreiche Brandanschläge auf Asylbewerberheime verübt. Hunderte Gräber auf jüdischen Friedhöfen in Berlin, Kiel, München, Rhens und Wuppertal sowie in zahlreichen anderen Städten wurden ­geschändet, die einstigen »jüdischen Baracken« in der Gedenkstätte Sachsenhausen bei einem Brandanschlag schwer beschädigt.

Zahlreich waren auch die Opfer rassistischer und antisemitischer Morde, die Rechtsextremisten verübten: Blanka Zmigrod, Kellnerin und Überlebende der Shoah, in Frankfurt am Main erschossen; Ingo Finnern, obdachloser Sinto, ins Flensburger Hafenbecken gestoßen; Nguyễn Văn Tú, Vertragsarbeiter, in Berlin erstochen; Sadri Berisha, Bauarbeiter, in Ostfildern-Kemnat mit einem Baseballschläger totgeprügelt; Silvio Meier, Antifaschist, in Berlin-Friedrichshain erstochen; Bruno Kappi, sehbehinderter Arbeiter, in Siegen totgeprügelt; Şahin Çalışır, Auszubildender, auf der Autobahn bei Meerbusch vor ein Auto getrieben.

1993: faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 

Apologeten aus der sogenannten »Mitte der Gesellschaft« versuchten damals, die Gewalt darauf zurück­zuführen, dass die Zahl derer, die in Deutschland Asyl beantragten, 1992 unter anderem infolge des Bürgerkriegs im zerfallenen Jugosla­wien einen Höchststand erreicht hatte. Zu verstehen sind diese Taten ­jedoch nur vor dem Hintergrund der verdrängten NS-Vergangenheit, der jahrzehntelangen bundesdeutschen Abwehr der Einsicht, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, und dem allgemeinen Wiedervereinigungstaumel. Befeuert wurde die zugehörige Stimmung von der damals ­regierenden CDU/CSU – die migrationspolitische Linie und Rhetorik mancher ihrer Mitglieder lässt nicht wenige AfDler von heute wie Softies aussehen – sowie von der parteiübergreifenden Asyldebatte, die 1993 zur faktischen Beseitigung des Grundrechts auf Asyl führte.

Bis heute ist der Beitrag der DDR zu dieser Entwicklung tabuisiert, der von autoritärer Sozialisierung über staatlich institutionalisierten Antizionismus und die unentwegte Rede von »Völkern«, die in »befreundete« und »nichtbefreundete« unterteilt wurden, bis zur konkreten Beihilfe reichte. Belegt sind etwa Stasi-­Kontakte zur neonazistischen Hepp-Kexel-Gruppe, die zu Beginn der achtziger Jahre Sprengstoffanschläge im Westen verübte, als im Osten die neo­nazistischen Aktivitäten und Gewalttaten bereits zunahmen, was in ­einem sich für »antifaschistisch« haltenden Staat allerdings nicht sein durfte und deshalb offiziell beschwiegen wurde.

Rechtsrock: der hässliche Soundtrack zur gesamtdeutschen Pogromzeit

Den hässlichen Soundtrack zur gesamtdeutschen Pogromzeit besorgte eine Band aus dem Stuttgarter Speckgürtel. 1990 hatten die Rechtsrock-Vorturner Noie Werte ihr erstes Album »Kraft für Deutschland« ver­öffentlicht, das mit Liedern auf­wartete, die Titel wie »Zusammenhalt«, »Deutscher Junge«, »Mein Land« und »Rudolf Heß« trugen. Die Dankesliste der LP endete mit einer Zeile für diejenigen, »die mit uns im Kampf stehen für ein freies Deutschland ohne Immigranten und Rotfront!«; mehr als zwei Jahrzehnte später, 2011, sollte bekanntwerden, dass der NSU in Frühversionen seines Bekennervideos Musik von Noie Werte verwendet hatte.

Wer im Spätsommer 1992 das Radio anmachte, blieb zwar vom indi­zierten Schund jener Band verschont, wurde dafür jedoch mit dem Song ­einer anderen Stuttgarter Gruppe beschallt, die gänzlich unbekümmert über »Die da!?!« scherzte – womit irgendeine Frau gemeint war, die es den Fantastischen Vier angetan hatte. Dass in jenen Monaten ein blödelndes und betont apolitisches Stück derartige Popularität ­genoss, gibt Auskunft über den kollektiven Gemütszustand, der in Deutschland herrschte.

»Fremd im eigenen Land«: das wichtigste Lied dieser Jahre

An die Wirklichkeit gemahnten derweil andere.
»Nach der vierten Krawallnacht rechnet die Polizei mit weiteren rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock. Die Stadt sei inzwischen ein Sammelplatz für Rechtsradikale aus dem ganzen Bundesgebiet geworden, sagte ein Polizeisprecher. In der Nacht war es wieder zu schweren Krawallen vor dem inzwischen geräumten Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen gekommen…«

Diese Worte eines Radionachrichtensprechers leiten »Fremd im eigenen Land« von Advanced Chemistry ein. Es handelt sich nicht nur um das wichtigste Lied dieser Band und der Frühphase des Raps in deutscher Sprache, sondern jener Jahre als solcher.

Solange es kein offizielles bundesweites Gedenken an die Pogrome, die Morde und die Anschläge von 1992 gibt, kommt »Fremd im eigenen Land« diese Rolle zu.

Das 1987 in Heidelberg gegründete Trio, bestehend aus Torch (Frederik Hahn), Linguist (Kofi Yakpo) und Toni-L (Toni Landomini), war eine der ersten auf Deutsch reimenden HipHop-Formationen überhaupt und rappte sich in seinen Anfangsjahren vor allem durch die Jugendzentren der alten Bundesrepublik. Dass sie 1992 einen Song parat hatte, der die gesellschaftspolitische Realität in Deutschland so gekonnt einfing und sie mit sich selbst konfrontierte, war Resultat ihres Könnens, ihres Desinteresses am Kommerz, vor ­allem aber ihres politischen Bewusstseins, auch als deutsche Staatsbürger auf Rassismus reagieren zu müssen.

Die zentrale Zeile des Songs lautet: »Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land/Kein Ausländer und doch ein Fremder«, was in dieser Deutlichkeit noch nie zuvor zu hören gewesen war. Zweimal unterbricht den Sprechgesang ein Ausschnitt der damaligen Titelmusik von »Spiegel TV«, »Mobile Unit« der Synthie-Pioniere George Fenton und Ken Freeman von 1980, was sich wie eine ironische Anspielung darauf anhört, dass Advanced Chemistry den gehaltvolleren Beitrag in dieser Angelegenheit ablieferten. Dazwischen wurden dumme Fragen eingestreut, die jedes migrantische Individuum kennt – »Gehst du mal später zurück in ­deine Heimat?« –, sowie die all­tägliche Dummheit paraphrasiert: »Ein echter Deutscher muss so ­richtig deutsch aussehen.« Den kaustischen Abschluss besorgt die ­Stimme des Nachrichtensprechers vom Anfang: »Das Wetter: heiter bis wolkig, ­Temperaturen morgen bis 34 Grad …« Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass im Radio »Die da!?!« folgte.

Wie Atari Teenage Riot: bereit, sich auf das Schlimmste einzustellen

Auf »Fremd im eigenen Land« konnten sich auch Punks und andere unerschütterliche Anhänger von ­Gitarrenmusik einigen. Der Track war schlichtweg zu wichtig und die Zeit zu mies, als dass subkulturelle Distinktion entlang von Genregrenzen zu wahren gewesen wäre. Hervorzuheben ist auch das in Heidelberg gedrehte Video, in dem neben der Band eine große Zahl ausgelassener, zumeist junger migrantischer ­Menschen zu sehen ist, was in einer Zeit, in der diese vorwiegend als ­Objekte skandalisierter Berichterstattung oder kulturalistischer ­Aufmachung zu Fernsehpräsenz gelangten, eine wohltuende Bild­störung war.

An Bereitschaft, sich auf das Schlimmste einzustellen, mangelte es gleichwohl nicht – »keiner macht den Faschos den Garaus«, rappte Torch. Das hatten Advanced Chemistry mit ­einer Berliner Band gemeinsam. Atari Teenage Riot, gegründet 1992, hatten bereits in ihrer Frühzeit ein Instrumentalstück namens »Hetzjagd auf Nazis!« im Repertoire, das 1995 auf ihrem Debütalbum auftauchen sollte; die einzigen Worte, die darauf zu hören waren, lauteten: »Der neunte Schuss ging sauber durch die Stirn.« Während die politisch Rat­losen der Gegenwart, die für den Neonazismus immer noch keine substantielle Erklärung vorgelegt haben, unentwegt verkünden, alles müsse »intersektional« gedacht werden, verschwendeten weder Ad­vanced Chemistry noch Atari Teen­age Riot je eine Zeile auf ihre Gruppenzusammensetzung, weil sie ­einfach getan haben, was sie tun ­wollten, in Konstellationen, die für sie das Nächstliegende waren und die keinerlei Begründung brauchten.

Heutzutage, wo sich zum nach wie vor existenten Rechtsrock gesellschaftlich akzeptierte Formen musikalisch verpackter Menschenverachtung gesellt haben und die Oral­apostel des deutschsprachigen Gangsta-Rap die Ohren mit vulgärstem Schrott malträtieren, zeigt sich, was auch zur rassistischen Realität dieses Landes gehört: Migrantische Männer haben Erfolg, wenn sie auf dumm und gewalttätig machen, also dem rassistischen Zerrbild entsprechen. Anerkennung für intelligente künstlerische Verarbeitungen der Wirklichkeit ist folglich rar geworden. Dreist nannte der Rapper Fler sein 2008 erschienenes drittes Album »Fremd im eigenen Land«. Das war weder Anspielung noch ­Aneignung, sondern die impertinente Umkehrung dessen, was die Ur­heber dieses Titels gemeint hatten.

Die Toten, Schwerverletzten und Traumatisierten der frühen neunziger Jahre mahnen derweil noch immer. Solange es kein offizielles bundesweites Gedenken an die Pogrome, die Morde und die Anschläge von 1992 gibt, kommt »Fremd im eigenen Land« diese Rolle zu. Advanced Chemistry für dieses gewichtige Stück Zeitgeschichte zu danken, ist 30 Jahre später das mindeste.