Wie Influencerinnen versuchen, dem Bilderkanon der entwürdigenden Darstellungen in den sozialen Medien zu entkommen

Weinende Ikonen

Wie kann die Teenagerin, die ihre Selfies auf Instagram postet, dem Kanon entwürdigender Darstellungen und Kommentare entkommen? Eine Retrospektive auf Revenge-Porn, It-Girls und die Selfie-Ära.

Anfang der nuller Jahre haben es Teenager schwer und einfach zugleich. Da ist dieses Ding, das zum ersten Mal in der Geschichte all die Symbole der Macht oder zumindest ihre Bilder global vernetzt: das In­ternet. Bilder von Kleidern. Bilder von Autos. Bilder von Stars. Ebenfalls neu ist, dass jeder Userin ein »Mitspracherecht« in Aussicht gestellt wird, sofern diese das nötige portable Pendant besitzt: das Fotohandy.

Explosionsartig gerät es nach Weihnachtsfeiertagen an Schulen in den Umlauf. Selbst das Kind der Mutter, die die Barcodes am Telefon zuklebt, hat irgendwann eins! Damit wird eine neue Epoche eingeläutet: Das eigene Bild erscheint auf dem Bildschirm. Einige hundert Pixel Selbst eingerahmt durch das gebürstete Metall eines Motorola »Razr«. Später erscheint das Bild glatt und hoch­aufgelöst auf den Touchdisplays der Smartphones. Das ist Selbstermächtigung durch die Frontkamera! Das eigene Bild ist immer und überall verfügbar, heiß begehrt und vor allem: »monetarisierbar«.

Zumindest das Bild der Frau! Die Relikte der Selbstdarstellung cisgeschlechtlicher Männer sind nämlich zweite Wahl. Uninteressant. Ungewollt komisch. Männliche Selbstdarstellung gilt als »schwul«, nicht einzuordnen, zumindest in die heterosexuelle Matrix. Und es ist eher die weiblich konnotierte Position, die seit jeher in den bildenden Künsten und später in den Medien als Objekt inszeniert, sexualisiert und symbolisch aufgeladen wurde.

Darum hat die weibliche Smartphone-Besitzerin am Anfang dieses Jahrhunderts die Möglichkeit, diese Objektifizierung selbst zu vollziehen, um daraus fragwürdigen Mehrwert zu erwirtschaften. Hyperfeminin in Szene gesetzt – und noch Jungfrau. So wie Britney Spears.

Durch jahrhundertelange symbolische Aufladung und Entfremdung, über die man in Abhandlungen zum sogenannten male gaze nachlesen kann, hatte sich das Bild der Frau einen Charakter angelebt, der ihr eine fragwürdige Form der visibility gab: Ihr Bild wurde zu einem beliebten Motiv, um Widersprüche der heteronormativen Matrix zu verhandeln, und es entsteht eine Nachfrage, die auch das Angebot formt. Die aufmerksame Userin der nuller Jahre erkennt ein Schlupfloch im System: Was wäre, wenn sie es schaffen würde, sich ihre Objektifizierung finanziell zu eigen zu machen?

Diese etwas oberflächliche und vor allem in den Dynamiken des App-bezogenen mobilen Internets wurzelnde Perspektive auf die Emanzipation der Frau hat wenig mit dem Netzfeminismus oder dem »Cyber­feminismus« zu tun, der mit den Anfängen des Internets entstand. Wenn diese unter anderem von Donna ­Haraways »Cyborg Manifesto« inspirierte Bewegung dem Netz noch das Potential eines frei gestaltbaren Raumes einräumt, der ein safe space für jene sein könnte, die von »analogen« kapitalistischen Dynamiken benachteiligt werden (so zum Beispiel das »Old Boy Network«, ein Zusammenschluss von Vertreterinnen des Cyberfeminismus wie Cornelia Sollfrank und Susanne Ackers), so steht es anders um die Feminismen der Digicam-Generation. Ihre Emanzipation geht Hand in Hand mit der kapitalistischen Vereinnahmung des Internets und versucht diese mit subversiven Taktiken zu »untergraben«. Eine davon ist, das monetarisierte Selfie zur Selbstermächtigung zu erklären.

Die junge Selfie-Enthusiastin hat im Vergleich zu ihren historischen Vorgängerinnen keine teure Technik nötig, um ohne große Umstände Selbstporträts zu schießen, diese zirkulieren zu lassen und mit dem ge­nerierten Traffic Geld zu verdienen. Der Dank gebührt der Kommodifizierung des Privatlebens im Internet: »Durch den Aufstieg des Bloggens wurde aus dem persönlichen Leben ein Allgemeingut und soziale Anreize – gemocht zu werden, gesehen zu werden – verwandelten sich in wirtschaftliche. Die Mechanismen der Online-Entblößung wirkten allmählich wie eine geeignete Grundlage für eine Karriere«, so die Journalistin Jia Tolentino in ihrem Buch »Trick Mirror. Über das inszenierte Ich« (2020). Die symbolische Aufladung des Frauenbildes verleiht dem Content eine zusätzliche Brisanz und Reichweite.

Noch heute kopieren Youtube- und Instagram-Stars, sei es absichtsvoll oder nicht, ein ganz bestimmtes Musterbeispiel aus den nuller Jahren, indem sie ihren widersprüchlichen Erfolg – sie sind doch nur sie selbst – und dessen Ausdruck in Form von Selbstdarstellung zum Zentrum ihrer Vermarktung machen und ihre dargestellte Oberfläche zum referenzlosen »It« erheben, um Unterhaltungswert aus dieser unheimlichen Ironie zu schöpfen. Das ist das Erbe des Phänomens Paris Hilton. Ikone kann man seitdem auch hauptberuflich sein, vor allem wenn man weiß und weiblich ist. Paris Hilton trifft Anfang der nuller Jahre den Zeitgeist und beansprucht ihre Selbstdarstellung als Markenzeichen. Sie gilt darum vielerorts als »Mutter des Selfies«, auch wenn sie einige Vorgängerinnen gehabt haben mag. Doch eine nähere Betrachtung des um Hilton gesponnenen Narrativs offenbart, auf wie viel Widerstand eine solche Selbstermächtigung stößt.

Als die Eltern der Generation Paris Hilton aufwuchsen, entschied noch ein Komitee aus überwiegend männlichen Produzenten, wer der Zirku­lation seiner Abbildung »würdig« ist. Es war eine Geste der Anerkennung, abgebildet zu werden. Denn das Patriarchat verfügte über die teure und komplexe Abbildungs- und Vertriebs­infrastruktur des 20. Jahrhunderts. Jede Abbildung einer Frau ist somit eine Referenz darauf, dass ein konservativ ausgerichtetes Komitee diesem Frauenbild seinen Segen gegeben hat. In diesem historischen Kontext erscheint Hiltons Selbstdarstellung als radikaler Bruch mit einer Tradition. Wie unterbindet das Komitee also ein Narrativ, das für eine neue Generation von Frauen inspirierend wirkt? Man nimmt ihm die magische Ambivalenz und verwandelt es in ein Dogma.

»The internet is for porn! The internet is for porn! Why you think the net was born? Porn! Porn! Porn!«, singen Katie Monster und Trekkie Monster in dem 2003 uraufgeführen parodistischen Musical »Avenue Q«. Das Lied wird so berühmt, dass große Brüder den Ohrwurm trällern. Rund drei Jahre zirkuliert ein Video mit dem Titel »1 Night in Paris«. Rick Salomon, Ex-Freund der damals 20jährigen Paris Hilton, »leakt« gegen ihren Willen ein privates Sexvideo und verkauft die Rechte an die Verleihfirma Red Light District. Das Video bricht weltweit Rekorde im Download und Verleih.

Rückblickend nennt Paris Hilton diesen Vorfall »electronic rape«. Die Veröffentlichung geschieht gegen ­ihren Willen. Im Boulevard wird spekuliert, dass es Teil einer gewagten Marketing-Strategie sein muss, um die Einschaltquoten der Reality-TV-Serie »The Simple Life« hochzutreiben.

Auch Kim Kardashians Werdegang ist mit der Veröffentlichung eines privaten Sexvideos eng verbunden. Die sexuelle Objektifizierung wird zur Feuertaufe für den Eintritt in die Welt der Bilder. Das emanzipatorische It-Girl-Narrativ erfährt einen entwürdigenden Bruch. Ein Bruch, der durch seine mediale Vervielfältigung von vielen Heranwachsenden als Fortsetzung der Geschichte einer Frau, die zur Macht strebt, wahrgenommen wird. Diese, so die Erzählung, sei dazu verdammt, als »sexualisiertes Opfer« ihre Selbstbestimmung in der medialen Spiegelung wieder zu verlieren. In ihrem Buch über die Wahrnehmung »problematischer Frauen« formuliert Sady ­Doyle treffend: »Wir halten weibliche Körper unter Kontrolle und Frauen selbst in Furcht, indem wir jede erotische Person, die weiblich ist oder wirkt, öffentlich opfern.«

Darum erscheint nach den digitalen Schauprozessen gegen Paris Hilton, Kim Kardashian, Britney Spears und Co. ein Leak intimer Bilder als das Risiko, das man eben zu tragen hat, wenn man als Frau »an die Macht« will. Statt den Leak als einen Versuch zu verurteilen, den Werdegang eines aufstrebenden Individuums zu schädigen, wird er zur unausweichlichen Konsequenz der weiblichen Emanzipation umgemünzt. Warum sollte aus der Medienpräsenz einer Frau der Anspruch erwachsen, ihre Darstellung als »Vorlage zum Onanieren« zu benutzen? Eigenartigerweise ist es eine Form der Vergewal­tigung, die von der sensationsgetriebenen Berichterstattung Anfang 2000 für legitim erklärt wurde. Der Missbrauch, den Paris Hilton erfährt, ist ein generalisierter Angriff auf die Bilder der It-Girls. Das unschuldige »Selbst-Abbild« einer Frau existiert nach dem Leak von Paris Hiltons Sex-Tape nicht mehr. Seit »1 Night in Paris« wohnt dem Bild der Frau einmal mehr eine potentielle Anzüglichkeit inne.

Ein kurzer Vergleich zeigt, dass es um das Bild des Mannes anders steht. Der Wrestler und Schauspieler Hulk Hogan, ein Mann, der Gewaltphantasien überspitzt inszeniert und zu Unterhaltung macht, weint sogar, als sein privates Sexvideo veröffentlicht wird, und er bekommt vor Gericht 120 Millionen US-Dollar Entschädigung zugesprochen. Ein Mann aus dem Showbusiness, so die einhellige Meinung, würde sich nicht selbst entblößen, denn das Framing als Opfer generiert keinen Wert für ihn. Es ist der weibliche Werdegang, der mit Applaus für sein Scheitern belohnt wird. Deshalb steht Paris Hilton unter Verdacht, Opfer einer sexualisierten Entblößung sein zu wollen; schlicht und einfach, weil sich die Entblößung verkauft. Diese Dy­namik existiert nicht erst seit gestern: Das schöne Opfer ist eine wiederkehrende Figur des (pop)kulturellen Kanons: Von Ophelia, dem Prototyp der schönen Leiche, über die hysterischen Musen aus dem Hôpital de la Salpêtrière in Paris bis hin zu der vergewaltigten »Janine«, die der Rapper Bushido 2006 besang. In unserer Kultur besteht eine Nachfrage für das sexualisierte Opfer.

Die MTV-Jahrgänge merken es gar nicht, denn sie lernen Frauen auf diese Weise über ihre Bildschirme kennen – leichtbekleidet und lasziv. Sex ist zwar offiziell immer noch kein Anblick für Kinder, aber die Referenzen auf Sex werden mit den Musikvideos der nuller Jahre in einem erschreckenden Ausmaß normalisiert. Von einer Halbtotalen gerahmt, geht der ehemalige »Mickey Mouse Club«-Star Christina Aguilera in ihrem Video zum Hit »Dirty« in die breitbeinige Hocke und bietet ­einen Blick in ihren Schritt. Britney Spears trägt in ihrem Musikvideo »I’m a Slave 4 U« ihren Tanga über der Hose. Ein paar Medienskandale später werden eben diese Darstellungen ironischerweise als Beweis dafür lanciert, dass diese Frauen keine würdevolle Behandlung verdienen.

Wegen dieser Auffassungen steht die junge Heranwachsende heute vor der Frage, ob sie die Präsenz des Körpers in die Selbstdarstellung und -vermarktung integrieren soll. Dabei geht sie das Risiko ein, dass ihr Bild sexualisiert wird, dass sie anfangs gesehen wird, dann aber die Kontrolle über ihr Bild verliert. Unfreiwillige Vervielfältigungen. Un­geahnte Rekontextualisierungen. Ein Hackerangriff auf die private Bibliothek wie bei Lena Meyer-Landrut. Gefakten Fotos werden Phalli in den Mund montiert. Das Rechtfertigungsmantra hat sich seit den nuller Jahren kaum gewandelt: »Sie haben es doch so gewollt, diese Selbstdarstellerinnen.« Soll man also das »Selbst« in seine Darstellung integrieren oder auf ein bildloses Image pflegen?

Manche Userinnen des Internets werden kleinlaut. Werden eine Frau ohne Bild, eine, die sich nichts aus Fotos macht und auf »innere Werte« setzt. Eine Frau mit bildarmer ­Linkedin-Präsenz steht für sich selbst und mit ihren bekleideten Beinen fest im Leben. Aber sie kann auch nicht aus dem fragwürdigen Mehrwert schöpfen, der medienhistorisch ihr Erbe ist.

Andere hoffen, durch Fotos mit aufsehenerregenden Outfits und starkem Make-up in das System der definierenden Bilder einzutreten – der Mehrwert erzeugenden, zweidimensionalen, sexualisierten Objekte. Beide Varianten fordern ein Opfer. »Als ich ein kleines Mädchen war, schaute ich auf zu Menschen wie Prinzessin Diana und ich glaube, man hat mir das genommen. Das hatte ich nicht geplant. Ich wollte nicht so bekannt werden«, erzählt Hilton in ihrer Doku »This Is Paris«. Denn der um Hilton entstandenen Diskurs etabliert folgenden Konsens: dass eine »Paris« keine »Diana« sein kann und umgekehrt.

Vielleicht ist diese in der Luft hängende Drohung der Grund, warum eine sogenannte »Influencerin« – das It-Girl-Äquivalent der Millennials – ein Vermögen für kosmetische Behandlungen ausgibt, um mit Hilfe dicker Lippen und langer Nägel Codes aus der Pornoindustrie zu reproduzieren. Es ist eine Weise, die entwürdigende Geste vorwegzunehmen, zu »ownen«, zu appropriieren und zu sagen: Ich weiß um das »Risiko« meiner Abbildung und ich lasse mir davon keine Angst machen. Diese Haltung findet auch bei den deutschen Influencerinnen in verschiedenen Formen Ausdruck: Die Captions unter Pamela Reifs körperbetonten Bildern sind eindeutig zweideutig. Shirin Davids Gesicht ist der eines prototypischen Playmates und Nika Iranis Feminismus ist demonstrativ mit ihrer Präsenz auf der Plattform Onlyfans verwoben.

Dies mag eine Strategie sein, die angreifbar macht. Aber es ist eine plausible Reaktion auf das Trauma des frauenverachtenden Revenge-Porn-Diskurses der nuller Jahre. Die sexualisierte Entfremdung des weiblichen Abbildes ist ein kollektives Erbe, mit dem sich Frauen im 21. Jahrhundert konfrontiert sehen und mit dem sie auf ihre Weise umgehen müssen. Die Teenagerin hat nämlich gesehen, dass Ikone sein oft bedeutet, mit einer Perspektive unter dem Rock vorgestellt zu werden, wie es im Fall von Kim Kardashian geschah. Oder von dieser Perspektive eingeholt zu werden, wie Britney Spears bei einem unbedachten Beinschwung im Jahr 2007. Es bedeutet auch, manchmal wegen einer entwürdigenden Darstellung öffentlich zu weinen. Die Bilder der zu Tränen erfüllten Ikonen kursieren dann im Netz und dienen als Anlass für noch mehr Spott.