Der lettische Nationalbolschewist Wladimir Linderman wurde erneut verhaftet

Der andere Wladimir

Der lettische Nationalbolschewist Wladimir Linderman entwickelte sich vom nationalistischen Rebellen zum bloßen Kreml-Propagan­dis­ten. Nun ist er erneut verhaftet worden.

Wer weiß, was sich das jüdische Ehepaar Ilja und Dora Linderman 1958 dabei dachte, ihren Sohn Wladimir zu nennen. Dem Ingenieur und der Ärztin aus Riga muss klar gewesen sein, dass die Kombination des Vornamens »Wladimir« mit dem Patronym »Iljitsch« in der Sowjetunion stets mit Lenin in Zusammenhang gebracht werden würde. Ein jüdisches Kind so zu nennen, war in der von latentem Antisemitismus geprägten Nachkriegszeit herausfordernd, aber formell unangreifbar, denn ein Kind nach Lenin zu benennen, war ein Ausdruck von Loyalität. Rebellion und Affirmation waren auch im späteren Leben von Wladimir Linderman eng verflochten.

Sein Studium der ökonomischen Kybernetik und Philologie brach er nach nur wenigen Semestern ab. Von sich reden machte Linderman in der Zeit der Perestrojka, als er nach der Lockerung der Zensur die »inoffizielle« Zeitschrift Tretja Modernisazija (Die Dritte Modernisierung) herausgab. Bis 1989 erschienen zwölf Ausgaben, zu den Au­toren gehörten die bekanntesten Vertreter der sowjetischen Postmoderne (zum Beispiel Dmitrij Prigow, Lew ­Rubinstein und Timur Kibirow) und des poetischen Metarealismus (Jelena Schwarz, Arkadij Dragomoschtschenko). Die meisten dieser Autoren hatten zuvor keine Chance gehabt, in der Sowjetunion ihre Werke legal zu veröffentlichen. Damals war Linderman eine wichtige Figur im Lager derjenigen, denen Michail Gorbatschows Reformen nicht weit genug gehen.

Doch das Interesse an avancierter Kunst und theoretischen Erwägungen scheint Linderman schnell verloren zu haben. Er eröffnete den angeblich ersten Sexshop in der Sowjetunion und begann mit der Herausgabe der erotischen Zeitung Jeschtscho (Noch mehr). Das Konzept war wie von der Konkret der Sechziger abgekupfert: erotische Bilder in Kombination mit radikalen politischen Texten. Dazu gab es fiktive Berichte über eine Affäre zwischen Michail Gorbatschow und der frisch gekürten Schönheitskönigin der UdSSR sowie experimentelle Texte von Autoren wie Wladimir Sorokin, Bajan Schirjanow oder Eduard Limonow.

1997 trat Linderman der russischen Nationalbolschewistischen Partei (NBP) bei, die sein früherer Autor Eduard Limonow gemeinsam mit Aleksandr Dugin gegründet hatte.

Die Haltung des Blatts zur postso­wje­tischen Ordnung wurde später jedoch so oppositionell, dass Lindermans Zeitung auf der Liste von kommunistischen und nationalistischen Medien landete, die nach dem bewaffneten Konflikt des russischen Präsidenten Boris Jelzin mit dem noch in der Endphase der Sowjetunion gewählten Volksdeputiertenkongress und den Obersten Sowjet im Oktober 1993 verboten wurde.
Kurz darauf begann Linderman mit der Herausgabe der Theoriezeitschrift Golos (Die Stimme), die sich den russisch-lettischen Beziehungen widmen sollte – einem sensiblen Thema im seit kurzem unabhängigen Lettland, wo er von nun an widerwillig den lettisierten Namen »Vladimirs Lindermans« tragen musste. Nach drei Ausgaben ging Golos pleite.

1997 trat Linderman der russischen Nationalbolschewistischen Partei (NBP) bei, die sein ehemaliger Autor Eduard Limonow gemeinsam mit Aleksandr Dugin gegründet hatte. Die NBP war eine an Jugendkulturen ausgerichtete Partei, die linken und rechten Radikalismus in allen Varianten verbinden wollte (Jungle World 14/2022). Limonow war ein im Westen erfolgreicher Literat, Dugin ein prominenter neurechterTheoretiker, der seither weltberühmt geworden ist und dessen Tochter kürzlich durch eine Autobombe in Moskau ums Leben kam. Wladimir Iljitsch trug damals den Kampfnamen »Genosse Abel«, die Funktion, die er bekleidete, hieß offiziell »Gauleiter«. Er trug wie viele »Nazbols« gelegentlich eine rote Armbinde mit weißem Kreis und schwarzem Hammer-und-Sichel-Symbol in der Mitte.

In Russland war die NBP eher ein subkulturell ausgerichtetes Kunstprojekt als eine politische Kraft. In den benachbarten ehemaligen Sowjetrepubliken wie Lettland, Ukraine oder Kasachstan zielte sie aber darauf, unzufriedene Teile der russischsprachigen Minderheit zu radikalisieren. Limonow sprach häufig von der Notwendigkeit, von der postsowjetischen Peripherie aus eine Re­volution zu entfachen. Ab 2001 saß er mehrere Jahre in einem russischen Gefängnis, weil er einen bewaffneten Aufstand in Kasachstan geplant haben soll.

2002 war Linderman nach Russland geeilt, um den Parteiführer zu entlasten. In Lettland drohte Linderman inzwischen ein Gerichtsverfahren, weil er geplant haben soll, die lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga zu ermorden. In Russland schrieb Linderman für Medien der Opposition – bis 2013 kooperierten Limonow und seine Anhänger im Bündnis »Other Russia« auch mit liberalen Oppositionskräften.

Mehrmals entging Linderman knapp der Auslieferung, bis er – nach dem Verbot der NBP im Jahr 2007 – 2008 schließlich doch an Lettland ausgeliefert wurde und zunächst im Gefängnis landete. Verurteilt wurde er dann aber nur zu einer Bewährungsstrafe wegen des Besitzes von Sprengstoff.

Das Lettland, in das Linderman zurückkehrte, war inzwischen EU-Mitglied und die russischsprachige Minderheit kämpfte dafür, ihre Sprache zu ­behalten und die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Linderman gründete die sich als sozialistisch bezeichnende, aber de facto nationalbolschewistische Partei »Bewegung 13. Februar«, die später in »Für eigene Sprache« unbenannt wurde, und eine NGO, die sich für die Rechte der Russischsprachigen einsetzte. Das ehemalige enfant terrible entwickelte ungeahnte Qualitäten als Realpolitiker. Die russisch-imperiale Ideologie vermengte er mit Menschenrechtsrhetorik und richtet sie so gegen den lettischen Nationalstaat, der sich immer deutlicher der lettischen »Herkunft« und Sprache verpflichtete, während der Status der einstmals privilegierten russischen Sprache schlechter wurde.

Linderman selbst ist staatenlos und gehört in Lettland der russischsprachigen Minderheit an, spricht aber auch Lettisch. Er fand sich unter den neuen Bedingungen schnell zurecht und suchte ständig nach neuen Verbündeten. So wendete er sich verstärkt an andere Minderheiten Lettlands: Polen, Belarussen, Lettgallen, Polen. 2012 initiierte er ein erfolgloses Referendum, um Russisch zur zweiten Nationalsprache zu machen. Dafür stimmten 24,88 Prozent. Um gegen LGBT-Rechte zu Felde zu ziehen, ging der ehemalige Sexshopbetreiber sogar Allianzen mit einigen let­tischen Rechten wie dem Musiker Kaspars Dimiters ein – eigentlich seine politischen Feinde.

Er wurde zum gefragten Autor in russischsprachigen Medien, etwa dem in Russland ansässigen Portal Baltnews, das sich an das russischsprachige Publikum in Estland, Lettland und ­Litauen richtet. Doch je mehr Zeit verging, desto mehr wurde der ehemalige Rebell, der erst gegen die Sowjetunion, dann sowohl gegen ein unabhängiges Lettland wie auch gegen Wladimir Putins Herrschaft in Russland eintrat, zum bloßen Kämpfer für Putins außenpolitische Ziele. 2014 demonstrierte er am Tag des Sieges am sowjetischen Denkmal für den Sieg über den Faschismus in Riga mit Flaggen der prorussischen Separatisten in der Ukraine. 2018 wurde er vorübergehend festgenommen, weil er volksverhetzende Reden gehalten haben soll. Am 21. Juni dieses Jahres wurde Linderman erneut verhaftet. Diesmal wirft man ihm wegen Äußerungen im Internet »Rechtfertigung eines Genozids« vor, womit die rus­sische Invasion in der Ukraine ­gemeint ist.