Die tragische Geschichte der Juden in Lettland

Jüdisches Leben in Lettland

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Lettland etwa 86 000 Jüdinnen und Juden. Fast alle wurden im Holocaust ermordet. Daran war auch die lettische Bevölkerung beteiligt.

Ein Gutteil der Bevölkerung Rigas war dereinst jüdisch, 1920 waren es um die 30 Prozent. In der südöstlich gelegenen Stadt Daugavpils, einem Zentrum jü­dischen Lebens in Lettland, war im Jahr 1913 sogar fast die Hälfte der 113 000 Einwohner jüdisch.

Während des Ersten Weltkriegs gehörte Lettland zum Russischen Reich. In Kriegszeiten kam es zu antisemitischen Pogromen, ein Großteil der jüdischen Bevölkerung floh aus Lettland oder wurde nach Russland deportiert, weil ihnen Illoyalität vorgeworfen wurde. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten fast 180 000 Juden in Lettland, danach waren es weniger als halb so viele. Am Ende des Kriegs kämpften zahlreiche Jüdinnen und Juden für die Unabhängigkeit Lettlands, die im Jahr 1918 proklamiert wurde. In der unabhängigen lettischen Republik genossen Juden volle Bürgerrechte – anders als unter dem Zarismus mit seinen vielfältigen Diskriminierungen – und Minderheiten wurde kulturelle Autonomie zugestanden. Doch auch in Lettland wurden antisemitische und faschistische Gruppen gegründet, wie etwa 1933 die Partei Pērkonkrusts (Donnerkreuz).

In der autoritären Diktatur des Präsidenten Kārlis Ulmanis ab 1934 florierte zwar der Nationalismus mit dem Slogan »Lettland den Letten«, doch Juden wurden nicht verfolgt und Pērkon­krusts war verboten. Einige Tausend Juden konnten in der Zeit sogar aus dem Deutschen Reich nach Lettland fliehen. Als Wehrmacht und SS am 20. Juni 1941 in Lettland einmarschierten, wurden sie allerdings von etlichen Letten freudig begrüßt. Lettland war 1940 – wie im Hitler-Stalin-Pakt vorgesehen – von der Sowjetunion besetzt worden. Viele Letten erhofften sich von dem deutschen Einmarsch eine Befreiung.

Schon am ersten Tag der deutschen Besatzung Rigas rief der lettische Nationalist Voldemārs Veiss im Radio auf Lettisch zum Kampf gegen den »inneren Feind« auf. In der Folge meldeten sich lettische Freiwillige und es kam zu den ersten Pogromen und Morden an Juden. Kurz darauf schufen die Nazis lettische Sondereinheiten mit Polizeibefugnissen. Sie wurden von Veiss kommandiert und waren an der Judenverfolgung beteiligt.

In der Folge radikalisierten sich die antisemitischen Ressentiments der örtlichen Bevölkerung. Die Nazi-Propaganda verknüpfte das Judentum mit dem Bolschewismus: Um diesen zu bekämpfen, müsse man die Juden vernichten. Die lettische Nazi-Zeitung Tē­vija (Vaterland) und zahlreiche Nazi-Plakate riefen Letten dazu auf, sich der Waffen-SS anzuschließen und sich der »Juden zu entledigen«. Über 100 000 Letten schlossen sich der lettischen Waffen-SS an oder traten den Polizeihilfstruppen der Nazi-Besatzer bei.

Lettische Jüdinnen und Juden wurden im Rigaer Ghetto, im Ghetto von Daugavpils, im Konzentrationslager Kaiserwald und Salaspils eingesperrt. Die meisten wurden bis Ende 1941 in den Wäldern von Biķernieki und Rumbula in der Nähe von Riga unter dem Kommando des lettischen SS-Offiziers Viktors Arājs erschossen, um Platz für Juden aus anderen Ländern zu machen. Insgesamt fielen etwa 70 000 der 86 000 lettischen Jüdinnen und Juden den Nazis und ihren lettischen Kollaborateuren zum Opfer.

Mit dem Sieg der Roten Armee über die Nazi-Truppen wurde Lettland ­wieder Teil der Sowjetunion. Die jüdische Bevölkerung in Lettland wuchs zwar langsam wieder, doch jüdische Traditions- und Religionsausübung wurden durch die Sowjetunion verboten, die Versuche, jüdische Schulen, Einrichtungen oder Organisationen zu gründen, wurden repressiv unter­bunden.

In den siebziger Jahren wanderte mehr als ein Drittel der jüdischen Bevölkerung aus, viele nach Israel. Nach der lettischen Unabhängigkeit 1991 verließen erneut circa 13 000 lettische ­Juden Lettland Richtung Israel. Die nur etwa 6 500 verbliebene Jüdinnen und Juden bilden heute noch etwa 0,3 Prozent der lettischen Bevölkerung. Trotzdem sind sie weiterhin politisch aktiv – es gibt insgesamt zwölf lettisch-jü­dische Organi­sationen, die gegen das Vergessen kämpfen, Synagogen und Friedhöfe restaurieren, Konzerte veranstalten und Gedenkstellen sowie Ausstellungen eröffnen.
Iosif Ročko ist Historiker und Sohn eines von etwas mehr als hundert Überlebenden des Holocaust in Daugav­pils. Obwohl die Gemeinde in der Stadt recht klein ist und einen hohen Altersdurchschnitt hat, kommen Touristen aus aller Welt, um sich die Daugavpilser Syna­goge, an deren Restauration Ročko beteiligt war, und das von ihm eröffnete jüdische Museum der Stadt, durch das er auch der Jungle World eine Führung gab, zu besichtigen. So halten sie die Erinnerung an die einst große jüdische Gemeinschaft Lettlands wach.

Joseph Koren ist russischsprachiger Jude und kämpft gegen Antisemitismus und nationalistische Geschichtsklitterung. Die lettische nationale Geschichtsauffassung bediene heute oft den kollektiven Schuldabwehrmythos, sagte Koren der Jungle World. Demzufolge hätten die Letten, die mit den ­Nazis kollaborierten, keine andere Wahl gehabt. Dabei sei der virulente Antisemitismus in der lettischen Gesellschaft sowie die freiwillige Partizipation an dem antisemitischen Massenmord in den Vierzigern historisch gut dokumentiert.