Die kommenden Parlamentswahlen in Lettland

Land der vielen Parteien

Im Oktober wird in Lettland das Parlament gewählt. Das Land ist berüchtigt für instabile Regierungen. Sein Parteiensystem ist äußerst fragmentiert, es dominieren liberale, konservative und rechte Kräfte.

Bald sollen die Letten wieder wählen. Am 1. Oktober wird die Saeima, das Parlament der Republik Lettland, neu besetzt. Nach jetzigem Stand der Umfragen dürfte die stramm konservative bis rechtspopulistische Regierungskoalition unter der Führung von Ministerpräsident Krišjānis Kariņš die Wahl verlieren. Die Zustimmung zu dessen eher liberal-konservativer Partei Jaunā Vienotība (JV, Neue Einheit) steigt seit Anfang des Jahres allerdings deutlich an und bringt sie mit knapp 20 Prozent in Führung.

Bei der vorigen Wahl im Oktober 2018 hatte die JV nur 6,7 Prozent der Stimmen geholt. Obwohl sie mit acht Sitzen die kleinste Fraktion unter den fünf Koalitionspartnern hatte, stellte sie mit Kariņš den Regierungschef – ein Kompromisskandidat, auf den sich die Beteiligten aufgrund seiner guten Kontakte, Erfahrungen und Fremdsprachen­kenntnisse aus seiner Zeit im Europaparlament einigen konnte. Allerdings hatte es nach der Wahl 109 Tage langwieriger Verhandlungen und zwei erfolglose Sondierungen gebraucht, bis Ende Januar 2019 die Regierung stand. Sieben von 16 angetretenen Parteien hatten die Fünfprozenthürde bewältigt, drei davon zum ersten Mal, das machte die Koalitionsverhandlungen zu den bislang längsten in der Geschichte Lettlands.

Der gesellschaftliche Konflikt zwischen lettisch- und russischsprachigen Menschen trägt zur Zersplitterung des Parteiensystems bei.

Lettische Regierungskoalitionen sind für ihre häufigen internen Krisen berüchtigt, die durchschnittliche Regierungszeit beträgt nur etwa 18 Monate. Auch die jetzige Regierung kann sich nunmehr nur noch auf vier Parteien stützen, die fünfte Partei war im Sommer 2021 aus der Regierung geflogen. Kommenden Oktober konkurrieren sogar 19 Parteien um die 100 Sitze im Parlament, ein Großteil lässt sich als konservativ-populistisch bis liberal einordnen.

Der gesellschaftliche Konflikt zwischen lettisch- und russischsprachigen Menschen trägt zur Zersplitterung des Parteiensystems bei und ist wohl auch ein Hindernis für die Etablierung linker Parteien. Viele Letten assoziieren »links« mit Sowjetnostalgie oder einer prorussischen Haltung. Die bisher größte Partei in der Saeima, Sociāldemokrātiskā partija »Saskaņa« (Sozialdemokratische Partei »Harmonie«, SDPS), stellt sozialpolitische Forderungen ins Zentrum ihres Programms, wird aber überwiegend von der russischsprachigen Minderheit ­gewählt. Deren Mitglieder sind zum Teil staatenlos, doch in den vergangenen Jahren erhielten immer mehr die Staatsbürgerschaft und damit das Stimmrecht. Die Umfragewerte der SDPS sinken seit Jahresbeginn jedoch stetig. Linke Neugründungen, die nicht primär auf die russischsprachige Minderheit zielen, wie etwa die Partei Progresīvie, sind auf nationaler Ebene bislang kaum erfolgreich. Progresīvie verpasste 2018 mit 2,6 Prozent der Stimmen den Einzug ins Parlament; in den Umfragen liegt die Partei derzeit bei sieben Prozent.

Neue Parteien waren in Lettland zunächst oft relativ erfolgreich, konnten sich aber nur selten lange halten. Die Voraussetzungen, um an Parlamentswahlen teilzunehmen, sind gering: Mindestens ein Jahr vor der Saeima-Wahl müssen die Parteien gegründet worden sein und mehr als 500 Mitglieder haben. Die drei Parteien, die 2018 zum ersten Mal ins Parlament einzogen, bekamen zusammen 45 Sitze.

Die Wahlbeteiligung ist über die Jahre kontinuierlich gesunken. Mit 54,6 Prozent war sie 2018 auf dem niedrigsten Stand seit der Unabhängigkeit Lettlands im Jahr 1991; 1993 lag sie noch bei über 91 Prozent. Viele Letten zeigen sich in Umfragen politikverdrossen – ein anhaltender Trend. Der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge ist das Misstrauen gegen politische Parteien in Lettland hoch. Eine Radiobefragung des öffentlich-rechtlichen Nachrichtenportals LSM in Riga ergab, dass dies auch daran liegt, dass das Parteiensystem so fragmentiert ist und ständig fluktuiert. Einige Bewohner Rigas spekulierten in der Befragung aber, dass dieses Jahr die Wahlbeteiligung wieder steigen könnte, »weil es aktuell so viel Beängstigendes gibt«, darunter neben dem Ukraine-Krieg auch die Frage, wie es mit Pandemie und Arbeitsmöglichkeiten im Herbst weitergehe. »Die Preise steigen überall, aber die Löhne steigen nicht, und die Heizung muss bezahlt werden.«

Zwar stieg das Bruttoinlandsprodukt im Gegensatz zum Rest des Euro-Raums im vergangenen Jahr deutlich an – die lettische Bevölkerung hatte aber nicht viel davon. Nach Angaben von Eurostat waren bereits im Jahr 2020 26 Prozent der lettischen Bevölkerung von sozialer Ausgrenzung oder Armut bedroht. Wie in den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten liegt die Lohnuntergrenze tief, Lettland gehört beim Pro-Kopf-Einkommen zu den EU-Schlusslichtern. Derzeit beträgt der Mindestlohn 500 Euro pro Monat oder 2,96 Euro pro Stunde – bei rasant steigenden ­Lebenshaltungskosten.

Lange hatte Lettland große Probleme mit Korruption, Klientelnetzwerken und Geldwäsche. Die jüngsten Antikorruptionsbemühungen scheinen aber ein paar Erfolge zu zeitigen. Im Jahr 2021 wurden mehrere Politiker wegen Korruption verurteilt, so auch Aivars Lembergs von der Union der Grünen und Landwirte, der ehemalige Bürgermeister von Ventspils und vormals einer der reichsten Menschen des Landes – das Gericht hatte ihn zu fünf Jahren Haft und Konfiskation seines Vermögens verdonnert.