Lettlands russische Bevölkerung steht im Zentrum von Konflikten

Vielfältige Minderheit

Knapp ein Drittel der lettischen Bevölkerung ist russischsprachig. Der russische Einfluss in Lettland ist groß, doch lettische Nationalisten würden sich davon gerne emanzipieren. Das führt zu gesellschaftlicher Polarisierung.

Wer in Riga durch die Straßen spaziert, hört die Menschen fast genauso oft Russisch wie Lettisch sprechen. Ethnische Russen stellen mit circa 25 Prozent die größte Minderheit der zwei Millionen Einwohner Lettlands. Die russische Sprache ist auch bei anderen Minderheitengruppen oft Erstsprache. Somit geht man davon aus, dass insgesamt 35 Prozent der Letten russischsprachig sind. In der Hauptstadt Riga spricht etwa die Hälfte der Einwohner Russisch als erste oder gar einzige Sprache, in der zweitgrößten Stadt im Osten des Landes, Daugavpils, sind es etwa zwei Drittel.

Die stärkste Partei Lettlands, mit knapp 20 Prozent der Stimmen in den vergangenen Parlamentswahlen 2018, war die Sozialdemokratische Partei »Harmonie«, die versucht, den Graben zwischen Letten und Russen zu schließen. In der 2017 gegründeten Partei Progresīvie engagieren sich Letten und ethnische Russen für eine sozialere Wirtschaftspolitik und einen europa­orientierten Kurs. Und die von vielen ethnischen Russen unterstützte Partei Lettlands Russische Union (LKS) fordert, Russisch und Lettgallisch als zweite Amtssprachen in jenen Bezirken Lettlands einzuführen, wo sie von mehr als 20 Prozent der Bevölkerung gesprochen werden (siehe Seite 9). Die LKS verurteilt zwar den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, weist aber von allen lettischen Parteien die größte Nähe zu Russland auf.

Der Großteil der russischen Minderheit in Lettland geht auf die Einwanderung während der Sowjetära zurück. Der Forderung Lettlands nach nationaler Unabhängigkeit schlossen sich Ende der achtziger auch ethnische Russen an. Doch die lettische Staatsbürgerschaft bekam danach nur, wer Vorfahren nachweisen konnte, die vor der sowjetischen Besatzung in Lettland lebten. So kommt es, dass heute etwa 200 000 ehemalige russischstämmige Sowjetbürger in Lettland als »Nichtbürger« ohne politische Rechte leben, beim UNHCR gelten sie als Staatenlose. Die lettische Staatsbürgerschaft könnten sie jederzeit beantragen, viele empfinden die Sonderbehandlung nach der Unabhängigkeit aber als diskriminierend.

»Russen in Lettland sind sehr unterschiedlich – das Einzige, was uns eint, ist, dass wir zu Hause Russisch sprechen.« Anna Gabunia

Zhanna Karelina, Mitglied der Russischen Union Lettlands (LKS), empfindet den Status der Nichtbürger als diskriminierend und fordert die Einbürgerung aller dauerhaft in Lettland wohnenden russischsprachigen Staatenlosen. Das gehört auch zu den Zielen der Parteien Progresīvie und Harmonie.

Laut Karelina verläuft das Zusammenleben von Russen und Letten allgemein friedlich, Konflikte würden eher durch diskriminierende Gesetzgebungen oder Aktionen wie den Abriss des für die meisten Russen wichtigen Denkmals für die sowjetischen Befreier von Riga erzeugt.

Während viele Letten dies besonders angesichts des Ukraine-Kriegs und der Okkupationsgeschichte Lettlands begrüßten, stellten sich neben vielen russischsprachigen Letten auch lettische Juden dagegen.

»Russen in Lettland sind sehr unterschiedlich«, sagt Anna Gabunia. Die 50jährige ist vor knapp acht Jahren aus Moskau nach Riga gezogen und hat seit Beginn des Kriegs zahlreiche Proteste unter dem Namen »Russische Stimme gegen den Krieg« organisiert. »Das Einzige, was uns alle eint, ist, dass wir zu Hause Russisch sprechen.« Bei einer Umfrage des Zentrums für Meinungsforschung SKDS zum Ukraine-Krieg gaben 46 Prozent der russischsprachigen Befragten an, keine der beiden Seiten zu unterstützen, 22 Prozent unterstützen die Ukraine, 21 Prozent Russland und elf Prozent wollten die Frage nicht beantworten.

Die Regierung Lettlands fordert derzeit, allen Russen den Zugang zu EU-Touristenvisa zu verwehren. Darüber hinaus kündigte Ministerpräsident Arturs Krišjānis Kariņš ein Gesetz an, das in Lettland lebende Russen ohne lettische Staatsbürgerschaft an der Erneuerung ihrer Aufenthaltsgenehmigungen hindern solle. Gabunia ist besorgt: »Das wäre eine menschliche Tragödie – stellen Sie sich vor, Sie haben Ihre Wohnung in Russland verkauft, Ihre Kinder gehen in die lettische Schule und auf einmal soll ihre Familie abgeschoben werden!«

Die lettische Staatsbürgerschaft kann erst nach zehn Jahren beantragt werden, weshalb vor allem für die in den vergangenen Jahren zugewanderten Vertreter der russischen Intelligenzija ein solcher Beschluss fatale Konsequenzen hätte. »Es ist normal, dass viele Menschen die russische Sprache und Kultur gerade mit militärischer Aggression verbinden«, sagt Gabunia. »Deshalb sollte sich jeder Russe zu diesem Krieg positionieren. Wir müssen jenen, die wegen Russlands Krieg leiden, helfen und andere Russen dazu animieren, aktiv zu werden.« Gabunia glaubt, viele Letten seien der Ansicht, dass Russen das Schicksal der Ukraine egal sei. Dabei seien die meisten Helfer in den Flüchtlingszentren entweder russische Letten, Ukrainer oder vor kurzem zugezogene Russen. In zwei Jahren wollen Gabunia und ihr Sohn die lettische Staatsbürgerschaft beantragen, Letzterer will in die lettische Armee, um die territoriale Integrität Lettlands zu sichern.

Doch nicht alle, vor allem deutlich weniger Russen als Letten, fürchten sich vor einer russischen Invasion. Der 58jährige Taxifahrer Igor, der in Daugavpils geboren und noch nie in Russland gewesen ist, sehnt sie sogar herbei. Er glaubt, Lettland sei inzwischen eine Kolonie der USA. Wenn Putin käme, um die Russen in Lettland zu »befreien«, würde er selbst zur Waffe greifen, um gegen Lettland, wo seine Vorfahren seit dem 18. Jahrhundert ansässig seien, zu kämpfen. Solche Positionen sind vor allem unter älteren Russen mit niedrigem Einkommen und Bildungsniveau verbreitet. Seine Informationen bezieht Igor wie ein beachtlicher Teil der russischen Minderheit ausschließlich aus russischen Propagandamedien. Die lettischen Regulierungsbehörden haben bereits im vergangenen Jahr die lokalen Sendungen der beiden wichtigsten staatlichen Fernsehsender Russlands abgeschaltet und im Juni diesen Jahres die übrigen 80 russischen Unterhaltungskanäle verboten.

Das liberale Online-Medium Meduza ist in Riga bereits seit 2014 ansässig. Seit der russischen Invasion in der Ukraine flüchteten weitere 250 oppositionelle russische Journalisten nach Riga, wo sie die Arbeit ihrer Redaktionen fortsetzen, darunter die Mitarbeiter der Zeitung Nowaja Gaseta und des Fernsehsenders TV Rain (Doschd). Die Russen, die in den vergangenen zehn Jahren nach Lettland gezogen sind, unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von denen, die seit mehreren Generationen in Lettland leben. Sie sind liberal, finanziell eher gut situiert und flüchteten vor politischer Verfolgung; viele von ihnen haben vor, nach Russland zurückzukehren, sollte sich die Situation dort verbessern.

Die russische Journalistin Sonja Grojsman floh über Istanbul und Tiflis nach Riga und verfügt seit Juli über ein lettisches Arbeitsvisum. Sie arbeitet für TV Rain und ist Lettland sehr dankbar dafür, dass sie hier in Sicherheit ist. Mit lettischen Russen hatte die 28jährige bislang nur wenig zu tun. Diskriminierung wegen ihrer Herkunft habe sie in Lettland nicht erfahren – die meisten Leute würden entspannt ins Russische wechseln, wenn sie merkten, dass sie das Lettische nicht beherrscht.

Die lettische Regierung hat TV Rain finanziell sowie rechtlich unterstützt und hofft, dass die unabhängigen russischen Medien die russische Bevölkerungsgruppe des Landes zu einer pro­ukrainischen Haltung bewegen können. Gleichzeitig warnten lettische Geheimdienste davor, dass unter den russischen Reportern im Land, die nach dem Verbot der kritischen Berichterstattung über den Einmarsch in die Ukraine aus Russland geflohen waren, verdeckte Spione sein könnten.

In Lettland verpflichtet ein Gesetz die Medien dazu, etwa 80 Prozent der Inhalte ausschließlich auf Lettisch zu veröffentlichen. Diese strenge Regel kann dazu führen, dass russischsprachige Menschen »alternative« Quellen suchen, die ihr Weltbild bestätigen. Auch lettische Politiker sind angehalten, Ankündigungen und Stellungsnahmen ausschließlich in lettischer Sprache zu verfassen. Nils Uschakow, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei »Hoffnung« und ehemaliger Bürgermeister von Riga, musste eine Geldstrafe entrichten, als er dagegen verstieß. Selbst in mehrheitlich russischsprachigen Städten wie Daugav­pils sind alle Straßennamen und Inschriften auf Lettisch – Russisch ist hier unerwünscht.

Auch für Schüler haben die Sprachgesetze Nachteile: Mit der Bildungsreform von 2018/19 wurde Russisch als Unterrichtssprache zurückgedrängt. Das führt besonders an Russischen Schulen, die seit dem 18. Jahrhundert in Lettland zu den verbreiteten Bildungseinrichtungen gehören, zu Problemen. Alexandra und Pawel aus Daugavpils sind beide 20 Jahre alt und haben die Auswirkungen zu spüren bekommen. Ihre Noten verschlechterten sich und es war ungewohnt, plötzlich auf Lettisch zu lernen. Sie sagen, dass sie deshalb weder Lettisch noch Russisch perfekt beherrschten. Beide haben ohnehin nicht vor, in Lettland zu bleiben. Wie viele junge Menschen wollen sie nach Westeuropa auszuwandern – in Lettland sehen sie keine berufliche Perspektive.