Die Vorgeschichte des DFB-Pokalspiels zwischen Teutonia Ottensen und RB Leipzig

Zuhause in der Ferne

Für sein DFB-Pokalspiel fand Teutonia Ottensen lange kein Stadion. Am Ende spielte man in Leipzig, im Stadion des Gegners.

Rein sportlich betrachtet war die Partie des FC Teutonia 05 Ottensen aus Hamburg in der ersten Runde des DFB-Pokals alles andere als erwähnenswert. Der Titelverteidiger RB Leipzig setzte sich in der vergangenen Woche gegen den Regionalligisten ungefährdet und dem Klassenunterschied angemessen mit 8:0 durch. Einzig der Hattrick von Rückkehrer Timo Werner in der ersten Halbzeit war zumindest der Erwähnung wert. Abseits des Rasens gab es jedoch im DFB-Pokal nicht mehr so viel Aufregung, seit Helene Fischer 2017 beim Pokalfinale während ihres Auftritts in der Halbzeitpause ausgebuht worden war.

Das Schmierentheater der vergangenen Monate fing eigentlich ganz unspektakulär an. Wie viele unterklassige Vereine verfügt auch der Hamburger Stadtteilclub Teutonia Ottensen über kein eigenes Stadion, das den Ansprüchen des DFB für ein Pokalspiel genügt. Und auch das Stadion Hoheluft, in dem der Verein seit seinem Regionalligaaufstieg 2020 seine Heimspiele austrägt und das früher regelmäßig Austragungsort von DFB-Pokal-Partien war, kommt nicht mehr in Frage, seit 2017 der ­Naturrasen gegen einen Kunstrasen ausgetauscht wurde. Also machte man sich auf die Suche nach einem Ausweichort. Innerhalb der Stadtgrenzen erfüllen nur das Volkspark­stadion des Hamburger SV und das Millerntor-Stadion des FC St. Pauli die Auflagen des Verbands. Von beiden erhielt Teutonia Ottensen jedoch eine Absage.

Sollte das Leipziger Beispiel Schule machen, wäre es wahrscheinlich endgültig vorbei mit der liebgewonnenen Tradition, als Fan eines Bundesligisten wenigstens einmal in der Saison ein Spiel des eigenen Vereins in einem Stadion zu erleben, das nicht »Arena« heißt.

Beim Hamburger SV stand am Termin des Spiels bereits eine Messe für Labortechnik im Kalender. Der FC St. Pauli hatte keine derart praktische Ausrede zur Hand und sah sich zu einer inhaltlichen Begründung seiner Absage genötigt. Man wolle RB Leipzig »nicht über mögliche Pflichtspiele hinaus eine Bühne geben, vor allem nicht am Millerntor, das als Symbol für einen solidarischen und gerechteren Fußball steht«, hieß es in einer Stellungnahme des Vereins. Vor allem monierte man das Modell des Leipziger Clubs, das den Vereinsgedanken mit nur 21 stimmberechtigten Mitgliedern (Stand: März 2021) ad absurdum führt; St. Pauli setzt sich für die sogenannte 50+1-Regel ein, die verhindern soll, dass Investoren Vereine gänzlich übernehmen.

Diese klare Positionierung fand ein geteiltes Echo. Während es vor allem von Seiten organisierter Fußballfans viel Lob gab, kritisierten manche Medien den Kiezclub vehement. So sprach beispielsweise Sebastian Wolff in der Sportzeitschrift Kicker von einer »Verweigerungshaltung« des Vereins, der mit seiner Entscheidung »ein Zeichen für Populismus« setze. Der FC St. Pauli solle solidarisch »mit dem kleinen Nachbarn« sein, hieß es. Das eigentliche Problem besteht freilich darin, dass es in der gesamten Hansestadt kein einziges kommunales Stadion gibt, das für ein Pokalspiel geeignet wäre, ein Mangel, der darüber hinaus seit Jahren bekannt ist; das jedoch erschien Wolff offenbar ungeeignet für eine Moralpredigt.

Aufgrund der zumeist oberflächlichen und verkürzten Kritik sah sich der FC St. Pauli dazu genötigt, eine ausführlichere Begründung nachzureichen. Das Stadion sei überdimensioniert, der Sicherheitsdienst aus Personalmangel schon mit dem Regelspielbetrieb überlastet und der Rasen zum ersten Mal seit langer Zeit in einem vorzeigbaren Zustand. Zusätzliche Spiele würden das Geläuf unnötig belasten, und sollte es freie Kapazitäten für mehr Spiele geben, so hätten zunächst die eigene U23 und das Frauenteam Vorrang, die beide in der Regionalliga spielen.

Diese überaus sachliche Stellungnahme kam nicht gut an in Ottensen, sofern sie denn überhaupt gelesen wurde. Liborio Mazzagatti, der Sportliche Leiter von Teutonia Ottensen, sagte dem ZDF, er habe »überhaupt kein Verständnis für die Begründung vom FC St. Pauli. Das Projekt RB und Ideologie als Begründung vorzuschieben, ist einfach eines Profi-Vereins irgendwie nicht würdig.«

Mazzagattis Unmut ist nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang ist aber auch erwähnenswert, dass sein eigener Verein in den vergangenen Jahren Gegenstand berechtigter Kritik war: Erst durch den Einstieg des russischen Mineralölkonzerns Luk­oil als Sponsor konnte Teutonia Ottensen mit Macht und am Ende erfolgreich in die Regionalliga aufsteigen. Das Engagement des Konzerns ist inzwischen beendet. Lukoil übernahm stattdessen den russischen Spitzenclub Spartak Moskau. Die Trikots von Teutonia ziert mittlerweile das Logo eines luxemburgischen Energydrinks.

Die Suche nach einem Stadion in der Nähe Hamburgs erwies sich ebenfalls als schwierig. Nachdem sich herausstellte, dass auch mögliche Spielstätten in Norderstedt und Lübeck die Auflagen des DFB in Bezug auf das für die Fernsehübertragung notwendige Flutlicht nicht erfüllen, machte Teutonia sich auf die Suche nach einem Spielort außerhalb der Metropolregion Hamburg. Fündig wurde man schließlich in Dessau. Das dortige Paul-Greifzu-Stadion, ehemals Heimstätte des Oberligisten SV Dessau 05, ist zwar über 400 Kilometer vom Hamburger Stadtteil Ottensen entfernt, liegt dafür aber praktischerweise nur eine knappe Autostunde nördlich von Leipzig.

Tatsächlich sah es lange so aus, als hätte Teutonia in Sachsen-Anhalt eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung gefunden. Rund 7 000 Tickets konnte der Verein absetzen, weit mehr, als in Hamburg bei einem sportlich derart irrelevanten Spiel an einem Dienstagabend zu erwarten gewesen wären. Der Regionalligist selbst hat, für Viertligisten nicht untypisch, nicht allzu viele Anhänger, und RB Leipzig ist außerhalb seines eigenen Einzugsgebiets kein Zuschauermagnet.

Eine Woche vor dem geplanten Termin am 30. August verschafften sich jedoch Unbekannte Zutritt zu der Dessauer Sportanlage und verätzten den Rasen im Mittelkreis sowie in beiden Strafräumen mit einer giftigen Flüssigkeit. Die Polizei ermittelt wegen Sachbeschädigung. Die Vereine beantragten daraufhin beim DFB einen Tausch des Heimrechts. Das schließen die Regularien des Pokals zwar explizit aus, ob der Kurzfristigkeit der Situation und bestehender Fernsehverträge stimmte der Verband jedoch zu.

Somit fand die Erstrundenpartie in der Red-Bull-Arena in Leipzig vor etwas mehr als 13 000 Zuschauern statt. Das sind annähernd doppelt so viele, wie es in Dessau gewesen wären, und wahrscheinlich ein Vielfaches der Zuschauerzahl, die das Spiel in Hamburg, Lübeck oder Norderstedt erreicht hätte. Für Teutonia hat sich der ganze Stress also durchaus ausgezahlt – finanziell, aber auch in Form eines Maßes an Aufmerksamkeit, das sonst höchstens dem Erstrundengegner des FC Bayern München zukommt.

»Das ist jetzt vermutlich die für beide beste Lösung und wird in DFB-Pokal-Erstrunden Schule machen«, kommentierte Nicole Selmer, die Chefredakteurin des österreichischen Fußballmagazins Ballesterer, bereits vor dem Spiel auf Twitter. Tatsächlich dürften etliche Amateurvereine etwas neidisch auf die Einnahmen der Hamburger blicken. Schwarz-Weiß Rehden hatte gegen den wenig zugkräftigen Zweitligisten SV Sandhausen im heimischen Stadion gerade einmal 1 300 Zuschauer begrüßen können. 50 Kilometer weiter, beim SV Rödinghausen, waren es gegen den nicht eben populären Bundesligisten TSG Hoffenheim mit 1 600 Zuschauern nur unwesentlich mehr. Auch zu den Spielen des SV Straelen und des FV Engers, die für ihre Spiele gegen Arminia Bielefeld respektive den FC St. Pauli in größere Stadien in der näheren Umgebung ausgewichen waren, kamen nicht einmal annähernd so viele Zuschauer wie zum »Heimspiel« von Ottensen in Leipzig.

Das dürfte der eigentliche Hintergrund der ganzen Posse sein. Immer striktere Auflagen des DFB und die Notwendigkeit für die Vereine, mit dem vermeintlichen Spiel des Jahres möglichst große Einnahmen zu generieren, haben die Zahl echter Heimspiele von Amateurmannschaften im DFB-Pokal ohnehin bereits deutlich reduziert. Von 22 Viert- bis Sechst­ligisten spielten in diesem Jahr in Runde eins nur 13 in ihrem eigenen Stadion. Sollte das Leipziger Beispiel wirklich Schule machen, wäre es wahrscheinlich endgültig vorbei mit der liebgewonnenen Tradition, als Fan eines Bundesligisten wenigstens einmal in der Saison ein Spiel des eigenen Vereins in einem Stadion zu erleben, das nicht »Arena« heißt und das von außen auch nicht mit einem Baumarkt verwechselt werden kann.

Finanziell wäre das für die beteiligten Vereine sicher ein Gewinn. Für den Wettbewerb als Ganzes jedoch wäre es ein herber Verlust, nicht nur weil die Kluft zwischen Profi- und Amateurfußball noch weiter würde, sondern auch weil halbleere Ränge architektonisch mehr oder weniger identischer Multifunktionsbauten im Fernsehen weit weniger interessant aussehen als kleine, alte Stadien mit unverwechselbarem Charakter. Für den Verband, der die Fernsehrechte am DFB-Pokal in zahlreiche Länder verkauft, könnte das auf Dauer zu einem Problem werden. Für die Fans von Amateur- und Profiteams gleichermaßen ist es das bereits heutzutage.