Die nationalkonservative polnische Regierung fordert Reparationen von Deutschland

Offene Rechnungen

Erneut fordert die polnische Regierung von Deutschland Reparationen für den Zweiten Weltkrieg – diesmal mit mehr Nachdruck. Sie nannte eine konkrete Summe und kündigte weitere Schritte an, doch Deutsch­land lehnt bereits Verhandlungen ab.

1,32 Billionen Euro soll der Wert der Schäden sein, die Polen infolge der deutschen Invasion 1939 und der anschließenden Besatzung bis 1945 er­litten hat. Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der größten polnischen Regierungspartei, Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), präsentierte Anfang September auf einer Pressekonferenz in Warschau einen Bericht einer Parlamentskommission aus Historikern, Wirtschaftswissenschaftlern und Immobiliengutachtern. Er sagte: »Deutschland hat nie wirklich Rechenschaft über seine Verbrechen an Polen abgelegt.«

Der Tag war mit Bedacht gewählt. Genau 83 Jahren zuvor, am 1. September 1939, überfiel Deutschland Polen. Die Nationalsozialisten vernichteten Dörfer, Städte und Kulturgüter, sechs Millionen polnische Bürger starben insgesamt, von 3,3 Millionen jüdischen Polen überlebten lediglich 380 000. Das Land wurde systematisch ausgeplündert, Warschau dem Erdboden gleichgemacht. Der Präsentationsort des Gutachtens wiederum, das Warschauer Königsschloss, ist ein Symbol für den ­mühevollen und teuren Wiederaufbau.

Die liberale Opposition wirft der Regie­­rungspartei PiS vor, ihr gehe es bei den Reparationen um eine innen­po­litische Kampagne.

»Die Besatzung war besonders grausam«, sagte Kaczyński. Die Folgen hielten »in vielen Fällen bis zum heutigen Tag« an. Das vorgestellte Gutachten bilanziert die Verluste an Menschenleben und Kulturgütern, die völlige Zerstörung von Infrastruktur, Industrie und Landwirtschaft sowie die dadurch ausgefallenen Einnahmen des Staats. »Die Summe wurde mit der einschränkendsten, konservativsten Methode ­ermittelt, es wäre möglich, sie zu erhöhen«, sagte Kaczyński. Die deutsche Wirtschaft könne sie »perfekt verkraften, ohne erdrückt« zu werden. Eine erste Bestandsaufnahme war 2017 noch auf 840 Milliarden Euro gekommen. Das jetzt präsentierte Gutachten liegt bereits seit 2020 vor. Die Arbeit sei abgeschlossen, er wolle sich aber noch nicht zu Details äußern, sagte Kommissionsleiter Arkadiusz Mularczyk damals. »Dafür kommt noch eine passende Zeit.«

In einem Jahr finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die nationalkonservative, rechtspopulistische Partei PiS liegt in Umfragen immer noch in Führung, aber ihr Vorsprung verringert sich. Die liberale Oppositionspartei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) wirft der PiS vor, ihr gehe es bei der neuerlichen Reparationsforderung um eine innenpolitische Kampagne. »Die PiS-Initiative zu den Kriegsreparationen taucht seit mehreren Jahren immer dann auf, wenn PiS eine politische Erzählung stricken muss«, sagte der PO-Vorsitzende und frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk. Bereits 2004 hatte das polnische Parlament eine Resolution verabschiedet, der zufolge die Regierung »dringende Schritte« einleiten und Entschädigungszahlungen ver­langen solle. Die starken rechtskonservativen Parteien im Parlament wollten damals die liberale, sozialdemokratische Regierung als »prodeutsch« und somit »gegen das polnische Interesse« handelnd erscheinen lassen. 2005 gewann PiS die Parlamentswahl.

Nachdem die Partei 2015 nach Jahren in der Opposition erneut die Wahl ­gewann, stützte sie sich auf ihr Sozialstaatsprogramm: deutliche Erhöhungen des Kindergelds, des Mindestlohns und der Rente sicherten ihr die Stimmen der PiS-Anhänger in Kleinstädten und auf dem Land, die über Korruptionsvorwürfe und zwielichtige Immobiliengeschäfte hinwegsahen. Außerdem wuchs Polens Wirtschaft stetig. Die ­Covid-19-Pandemie hat den jahrelangen Aufwärtstrend zwar unterbrochen, ­allerdings in geringerem Maße als in den meisten anderen EU-Mitgliedsstaaten.

Doch im August betrug die Inflationsrate 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, die Wirtschaft ist im Abschwung. Der eklatante Wohnungsmangel verschärft sich seit Jahren. Derzeit leben Schätzungen zufolge weit über 1,3 Millionen vor dem Krieg geflohene Ukrainer in Polen. Im Winter werden die Folgen der Energiekrise deutlich zu spüren sein. PiS hatte bereits im April ein Embargo für Kohle aus Russland eingeführt, der Rest der EU wartete damit bis August.

PiS hat für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme bislang keine schlüssigen Konzepte. Stattdessen ­versucht die Partei, ihre Popularität mit gesellschaftlicher Polarisierung und dem politischen Feindbild Deutschland zu erhalten. Wer nicht die Linie der Partei vertritt, wird als antipolnisch diffamiert. »Wir haben erfahren, dass Deutschland für den russischen Angriff auf die Ukraine verantwortlich ist und die Auszahlung von EU-Geldern in Milliardenhöhe blockiert«, kommentierte Bartosz Wieliński in der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza ironisch. »Der PiS-Abgeordnete Zdzisław Kras­no­­dębski (im Europaparlament, Anm. d. Red.) bezeichnete den Westen, das heißt Deutschland, als größere Bedrohung für Polen als Russland. Der stellvertretende Infrastrukturminister Marek Gróbarczyk warf den Deutschen vor, die Oder zu vergiften.« So werde es bis zu den Wahlen weitergehen – das öffentlich-rechtliche Fernsehen werde »ununterbrochen die bösen Deutschen aufleben lassen«.

Die Position der deutschen Regierung ist, dass Polen 1953 auf weitere Reparationen verzichtet und dies seither »mehrfach bestätigt« habe. PiS hält die damalige Vereinbarung für ungültig, da sie unter der damaligen kommunistischen Regierung auf Druck der So­wjetunion zustande gekommen sei. Die Bundesregierung beruft sich außerdem auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag über die deutsche Einheit von 1990, bei dessen Verhandlung Polen keine Ansprüche gestellt hatte, vermutlich weil die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepu­blik Priorität hatte.

»Wie alle Bundesregierungen zuvor kann ich darauf hinweisen, dass diese Frage völkerrechtlich abschließend geregelt ist«, sagte auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) knapp in einem Interview mit der FAZ. Bei seinem ersten ­Besuch als Bundeskanzler in Polen im Dezember hatte er den deutschen Beitrag zum EU-Budget betont. Polen war in den vergangenen Jahren der größte Nettoempfänger von EU-Geldern, Deutschland dagegen zahlt am meisten ein. Wieliński kommentierte: »Das einzige deutsche Geld, das der Regierung zur Verfügung steht, sind die Milliarden Euro aus der KPO (Krajowy Plan Od­budowy, ein staatlicher Investitionsplan, Anm. d. Red.) – ein beträchtlicher Teil davon stammt aus dem deutschen Beitrag zum EU-Haushalt.« Dazu müsse »lediglich in Polen die Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt werden«.

Tatsächlich liegt es nahe, dass die Reparationsforderungen auch im Kontext des Rechtsstreits der PiS-Regierung mit der EU stehen, die den Einfluss der polnischen Regierung auf die Justiz und die Medien sowie Verstöße gegen den Schutz der Menschenrechte bemängelt. Der Europäische Gerichtshof hat Strafzahlungen in Millionenhöhe verhängt, wegen Missachtung des Vorrangs des EU-Rechts droht die Kommission Polen derzeit mit einer weiteren Klage. Außerdem hatte die EU in Reaktion auf die polnischen Justizreformen mehrere Milliarden Euro aus ihrem Coronahilfefonds eingefroren. Im Juni hatte Polen zwar eingelenkt und sich auf eine Revision der Reformen verständigt, ausgezahlt wurden die zurückgehaltenen EU-Hilfen bisher nicht.

Der russische Krieg verbesserte zuletzt Polens Verhandlungsposition. Das Land leistet gemessen am Bruttoinlandsprodukt die dritthöchste Unterstützung für die Ukraine – deutlich mehr als Deutschland. PiS klagt, die EU wolle sie erpressen und sei von Deutschland gesteuert, das Europa dominieren wolle. Die polnische Regierung kritisiert außerdem, dass Deutschland Polen durch seine Russlandpolitik und den Alleingang bei Nord Stream 2 in Gefahr gebracht habe. Im Februar 2021 hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Pipeline mit dem Argument verteidigt, dass die Handelsbeziehungen bei Energieträgern fast die letzte verbliebene Brücke zwischen Russland und der EU seien. Steinmeier begründete die ­deutsche Position auch mit der historischen Verpflichtung gegenüber Russland. Die Opfer der Sowjetunion durch den Überfall Deutschlands rechtfertigten »kein Fehlverhalten in der russischen Politik heute, aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren«. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) schrieb darauf auf Twitter, er stimme Steinmeier zu, dass die Schulden aus dem Krieg nicht beglichen seien, doch Gas aus Russland zu kaufen, sei keine Wiedergutmachung. Der Bau von Nord Stream 2 sei »ein Handeln hinter dem Rücken der EU, das Russland die Verfolgung einer aggressiven Politik ermöglicht, die Abhängigkeit Europas verstärkt sowie der Wirtschaft und der Sicherheit schadet«.

Offizielle Reparationsforderungen hat Polen bislang nie gestellt, weder vor einem internationalen Gericht noch direkt an die deutsche Regierung. Kaczyński sagte nun, über den Bericht hinaus »haben wir auch eine Entscheidung getroffen« – und zwar jene, »Deutschland zu bitten, über diese Reparationen zu verhandeln«. Es sei ein »langer und schwieriger« Prozess zu durchlaufen. »Wir versprechen nicht, dass es einen schnellen Erfolg geben wird. Wir sagen nur, dass es eine polnische Pflicht ist«, sagte Kaczyński bereits im Juli.

Wie präsent die Erinnerung an die deutsche Besatzung in Polen immer noch ist, zeigt sich jedes Jahr zum 1. August, wenn mit Sirenenalarm an den Warschauer Aufstand erinnert wird. Im deutschen Gedenken dagegen spielt der Überfall auf Polen keine bedeutende Rolle. »Auf der anderen Seite der Rechnung stehen deutsches Nichtwissen über Polen, deutsche Herablassung gegenüber Polen und anderen Staaten im östlichen Europa, denen man meint, immer noch das eine oder andere beibringen zu müssen, von Erinnerungskultur bis hin zu globalen politischen Einschätzungen«, hielt Peter Oliver Loew, der Direktor des Deutschen Polen-Instituts, im Interview mit der Frankfurter Rundschau fest. Deswegen sei Deutschland gut beraten, aufmerksam zuzuhören und Polens Schmerz und Emotionen ernst zu nehmen, selbst wenn diese »als Teil eines Kulturkampfs gegen das liberale Europa ­inszeniert werden«.