Die Autobiographie des Filmemachers Werner Herzog

An Selbstbewusstsein fehlte es ihm nie

Werner Herzog feierte kürzlich seinen 80. Geburtstag. Pünktlich dazu veröffentlicht der Regisseur seine Autobiographie, die voller abstruser Anekdoten steckt – nicht zuletzt jenen über seinen mehrmaligen Hauptdarsteller Klaus Kinski.

Vor zehn Jahren, zu seinem 70. Geburtstag, scheute Werner Herzog jede Öffentlichkeit. Damals erschien die erste Biographie über den in München geborenen Regisseur, der seit den neunziger Jahren in Los ­Angeles lebt. Das Buch hatte er aber nicht autorisiert. Dem Autor ließ Herzog über seine Produktionsfirma lapidar mitteilen, dass er »anlässlich seines 70. Geburtstages sämtliche Aktivitäten, Ehrungen, Berichte oder dergleichen, auf die er Einfluss hat oder an denen er mitwirken soll, strikt vermeiden will«.

Jetzt, zum 80. Geburtstag, den er am 5. September feierte, hat er es sich offenbar anders überlegt. In Interviews erzählt er freimütig von seinem Leben und seiner Arbeit. Die Deutsche Kinemathek in Berlin ehrt ihn mit einer Ausstellung, und anlässlich seines Geburtstags hat er selbst ein Buch über sein Leben geschrieben, das er Ende Oktober in Wien und München vorstellt. Der Titel ist hochtrabend, wie es typisch ist für Werner Herzog: »Jeder für sich und Gott gegen alle«. So hieß bereits sein 1974 erschienener Film über Kaspar Hauser.

Herzog verkörpert das Bild eines hartgesottenen und unerschütterlichen Regisseurs, das nicht mehr recht in die hypersensible Gegenwartskultur passt und dadurch umso größere Bewunderung auslöst.

In den vergangenen Wochen ließ sich auch kaum eine deutschsprachige Publikation finden, die ihm keine Geburtstagswünsche geschrieben hätte. Von einem »Grenzgänger«, »Popkulturphänomen« oder »Mann für Extreme« war die Rede. Er selbst beschreibt sich in dem Dokumentarfilm »Werner Herzog – Radical Dreamer«, der im Oktober anläuft, als »Soldat des Kinos«. An Selbst­bewusstsein fehlte es Herzog nie.

Davon zeugt sein Leben zur Genüge, das die verrücktesten und absurdesten Anekdoten der Filmgeschichte enthält. Diese dürfen in seiner asso­ziativ und zeitlich nicht stringent geschriebenen Autobiographie natürlich nicht fehlen. Zum Beispiel jene über den Klau einer Kamera aus dem damaligen Institut für Film und Fernsehen in München, die er »ihrer angemessenen Bestimmung« zuführte, indem er mit ihr seine ersten Kurzfilme drehte; schließlich musste er ständig zusehen, »wie offensichtlich Unbegabte immer wieder Kameras bekamen«. Oder wie es dazu kam, dass er bei den Dreharbeiten zu »Auch Zwerge haben klein angefangen« (1970) nackt in ein Kaktusfeld sprang. Oder warum er einen seiner Schuhe aß.

Die unglaublichsten und bekanntesten Anekdoten betreffen die Strapazen, die er für seine Filme auf sich nahm, und das Pech, das ihn dabei so oft heimsuchte. Wie bei »Fitzcarraldo« (1982), als eine Reihe von Pannen im peruanischen Dschungel die Produktion über zwei Jahre andauern ließ. Es gab mehrere Darstellerwechsel, zwei Flugzeugabstürze, den heftigsten Regenfall seit Jahrzehnten, Schwerverletzte bei einem Überfall von Indigenen und einen Mit­arbeiter, den eine giftige Schlange in den Fuß biss. Um zu überleben, »nahm er seine Kettensäge vom Boden auf, warf sie wieder an und schnitt sich den Fuß ab«.

Es ist keineswegs so, dass sich Herzog als großer Abenteurer geriert. Zu zurückgenommen und nüchtern ­erzählt er von seinem Staunen über die Welt, und zu sehr geht es ihm bei seiner Arbeit um die Durchdringung der »ekstatischen Wahrheit«, wie er jene künstlerische Wahrheit nennt, die mit Fakten nicht übereinstimmen muss. Sonst wäre, so Herzog, das Telefonbuch von Manhattan das Buch der Bücher, weil es Millionen von faktisch korrekten Einträgen enthält. Aber warum es unter den vielen Menschen namens James Miller einen gibt, der jede Nacht in sein Kissen weint, erkläre das Telefonbuch nicht. »Erst die Poesie, erst die Erfindung der Dichter, kann eine tiefere Schicht, eine Art Wahrheit sichtbar machen.«

Trotzdem ist es genau das, was für viele die große Faszination Herzogs ausmacht: Er ist der idealtypische furchtlose Abenteurer, der unablässig auf der Suche nach neuen frontiers ist. Neue Grenzbereiche und -orte, die es noch zu filmen gilt, über die noch erzählt werden müsse. Er selbst war immer der Überzeugung, er werde jung sterben. Deshalb wollte er Filme machen, »bei denen ich davon ausgehen konnte, darüber hinaus werde es nichts mehr von mir geben«. Herzog verkörpert das Bild eines hartgesottenen und unerschütterlichen Regisseurs (»Die Kultur der Wehleidigkeit ist mir zuwider«), das nicht mehr recht in die hypersensible Gegenwartskultur passt und dadurch umso größere Bewunderung auslöst.

Dieses archetypische Bild verstärkt Herzog selbst, wenn er in wenigen Sätzen seine tiefe Abscheu vor der Psychoanalyse ausdrückt, da sie Bereiche der menschlichen Seele ausleuchte, die nicht ausgeleuchtet gehörten: »Ich wäre lieber tot, als zu einem Psychoanalytiker zu gehen, weil ich der Ansicht bin, dass da etwas grundlegend Falsches geschieht.« Die Psychoanalyse habe das vergangene Jahrhundert mit vielen anderen schlimmen Irrwegen zu einem fürchterlichen gemacht: »Ich halte das 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit für einen Fehler.«

Dass seine ersten Eindrücke dieses Jahrhunderts nicht ganz gemütlich waren, steht außer Frage. Er wurde 1942 geboren, »genau vor dem entscheidenden Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs«, als die Wehrmacht in Stalingrad und in Nordafrika jeweils vor ihrer großen Niederlage stand. Als München bombardiert wurde, floh seine Mutter mit ihm und seinen beiden Brüdern in das Bauerndorf Sachrang in den Chiemgauer ­Alpen. Ein Leben in der Idylle – und voller Entbehrungen und Armut. Nach dem Krieg kehrte die Mutter mit ihren Kindern nach München zurück. Dort kamen sie in einer Pension in der Elisabethstraße unter.

Und dann folgt wieder eine dieser verrückten Anekdoten des Werner Herzog: Die Besitzerin der Pension nahm den damals erfolg- und mittellosen Klaus Kinski auf, mit dem Herzog später fünf Filme drehte. Kinski terrorisierte die ganze Pension, warf mit Kartoffeln um sich, schrie lauter als jeder andere, lief meistens nackt durch die Wohnung und zerdepperte das Bad, »bis alles zu kleinsten Scherben zerlegt war. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich fünfzehn Jahre später mit ihm zu arbeiten begann.«

Die unbändigen Wutausbrüche Kinskis am Set von »Fitzcarraldo« sind längst legendär. Ebenso das Angebot der Indigenen an Herzog, Kinski zu töten, wenn er nicht mit seiner Tobsucht aufhöre. Die Zusammen­arbeit zwischen beiden war so fruchtbar wie furchtbar. Die Rasereien Kin­skis, die sich gegen alles und jeden richteten, werfen aber unzweifelhaft die Frage auf, wie viel ein Regisseur seinem Filmteam zumuten darf und kann, um die Bilder zu bekommen, die er möchte. Dass Kinski nicht nur auf der Leinwand ein Wahnsinniger war, bezeugen die 2013 veröffentlichten Inzestvorwürfe von Pola Kinski gegen ihren Vater, an deren Wahrheit Herzog »absolut keinen Zweifel« hat.

In den USA ist der sonderbare Bayer seit langem ein Star. Er hatte drei Gastrollen in der Zeichentrickserie »Die Simpsons«, spielte an der Seite von Tom Cruise den Bösewicht in »Jack Reacher« und war zuletzt in der Star-Wars-Serie »The Mandalorian« zu sehen. In Deutschland wurde Herzog, nachdem er in Hollywood re­üssierte, vernachlässigt. Spätestens zum 80. Geburtstag aber sind sich ­jedoch alle einig: Werner Herzog ist ein Ereignis.

Werner Herzog: Jeder für sich und Gott ­gegen alle. Erinnerungen, Hanser-Verlag, München 2022, 352 Seiten, 28 Euro