Einer neuen Studie zufolge haben die Hartz-IV-Sanktionen keine positive Wirkung

Schikane aus Prinzip

Auch nach der Umbenennung von Hartz IV in »Bürgergeld« soll es möglich bleiben, die Bezüge von Erwerbslosen unter das Existenz­minimum zu kürzen – obwohl eine neue Studie keinerlei Hinweise auf eine positive Wirkung von Sanktionen fand.

Als der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und der Herausgeber der Zeit, Josef Joffe, sich 2017 zu einem Interview trafen, tätigte Schröder unter anderem die nicht erst aus heu­tiger Sicht fragwürdige Aussage: »Verglichen mit dem US-Präsidenten (zu diesem Zeitpunkt Donald Trump; Anm. d. Red.) können wir froh sein, einen Putin zu haben.« Auch in Bezug auf die sogenannte Agenda 2010 gelangte Schröder zu einer eigenwilligen Einschätzung: »Wir« – gemeint sind die Deutschen – »werden weltweit für diese Reformanstrengung bewundert.« Und Joffe sekundierte: »So ist es.«

Getrübt wird der internationale Ruhm allerdings durch einen Schönheitsfehler: Teile der »Reformanstrengung« waren nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Und so verbot das Bundesverfassungsgericht 2019 mit einem Urteil, Erwerbslosen existenzsichernde Sozialleistungen um mehr als 30 Prozent zu kürzen. Zwar dürfe der Gesetzgeber »zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen«, hieß es in der Begründung. Doch müsse dabei die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Und: »Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen.«

Mit den an der Studie teilnehmenden Hartz-IV-Empfängerinnen wurden Interviews geführt, in denen sie ihren Kontakt mit den Jobcentern bewerten sollten.

Obwohl Hartz-IV-Zahlungen zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 14 Jahren unter das Existenzminimum gekürzt wurden, gab es damals keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, ob die Sanktionen tatsächlich ihr Ziel erreichen. Doch auch ganz ohne Evidenz urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass einer Leistungsminderung in Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs »eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Ziels, durch Mitwirkung die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen« sei. Dabei könne sich der Gesetzgeber auf die plausible Annahme »einer abschreckenden ex ante-Wirkung« stützen.

Seit Anfang vergangener Woche liegt jedoch eine Studie vor, die dieser Einschätzung widerspricht. »Sanktionen haben eine Wirkung, aber nicht die beabsichtigte«, fasst die Vorsitzende des Vereins Sanktionsfrei, Helena Steinhaus, zusammen. Sanktionsfrei hatte das Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung damit beauftragt, über einen Zeitraum von drei Jahren zu untersuchen, welchen Effekt Sanktionen und deren Androhung auf Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger haben. 585 Teilnehmende wurden dafür in etwa gleich große Gruppen aufgeteilt: Die eine bekam im Fall einer Sanktionierung einen bedingungslosen finanziellen Ausgleich zugesagt, während die Kontrollgruppe keine Kompensation erhielt. Das Ergebnis: Finanzielle Kürzungen hätten »keinen positiven Effekt auf die Kooperationsbereitschaft«, so Steinhaus, »Sank­tionen bringen Menschen nicht in ­Arbeit«.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtverbands, Ulrich Schneider, nannte die Sanktionspraxis vor dem Hintergrund der Studienergebnisse eine »tiefschwarze Rohrstockpädagogik«, die keinen Platz habe »in einem System, das helfen will«. Der Erziehungswissenschaftler verweist darauf, dass in Zeiten, in denen körperliche Züchtigung noch als pädagogisch wertvoll galt, manch ein Lehrer sich gar nicht vorstellen konnte, dass sich Wissen auch ohne Prügel vermitteln lässt. Schneider hält es für den besseren Ansatz, Menschen zu motivieren, statt sie einzuschüchtern.

»Das psychosoziale Wohlbefinden wird durch das System ›Hartz IV‹ beeinträchtigt, und das ganz unabhängig ­davon, ob Sanktionen erfolgen oder diese finanziell ausgeglichen werden«, heißt es in der Studie. Mit den teilnehmenden Hartz-IV-Empfängerinnen wurden Interviews geführt, in denen sie ihren Kontakt mit den Jobcentern bewerten sollten. Im Ergebnis hätten »die befragten Personen häufiger über einschränkende als über unterstützende Erfahrungen« berichtet. »Mir geht es nicht gut mit dem Druck, der vom Jobcenter ausgeübt wird, mit den Drohungen, die da auch teilweise kommen«, heißt es in einer der Schilderungen. Eine andere beklagt: »Ich habe eine Aktennummer und da muss irgendwie was erreicht werden, muss unterm Strich was rauskommen. Egal, was da für ein Mensch jetzt da sitzt und was der für ein Anliegen hat oder vielleicht auch für Schwierigkeiten hat. Das ist erst mal ­total egal.«

Noch bevor das Bundeskabinett ebenfalls in der vergangenen Woche die Eckpunkte für das geplante »Bürgergeld« bekanntgab, das Hartz IV ersetzen soll, betonte Schneider: »Wenn die Bundesregierung jetzt beim Label ›Bürgergeld‹ zu kurz springt, werden für viele Jahre alle Chancen vertan sein, zu einer echten Reform zu kommen.« Er verwies dabei auf einen »alarmierenden Befund«: Bei 47 Prozent der Hartz-IV-Bezieherinnen würden die Einnahmen nicht die Ausgaben decken, sie müssten Lücken überbrücken, beispielsweise mit Essensspenden und Unterstützung durch die zivilgesellschaftlichen Tafeln.

Der wissenschaftliche Beirat des Land­wirtschaftsministeriums hatte 2020 sogar explizit festgestellt: »Die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisieren.« Es gebe in Deutschland »armutsbedingte Man­gelernährung und teils auch Hunger«.

Neben der Schikane durch Sank­tionen kritisierte Schneider insbesondere die »Kleintrickserei« bei der Regelsatzberechnung, mit der ermittelt werden soll, wie viel Geld es für eine Grundsicherung braucht. Als Grund­lage dienen dabei die Ausgaben der 15 Prozent der Bevölkerung mit den geringsten Einkommen. Diese werden dann um alle Kosten für Dinge gekürzt, die der Gesetzgeber als »nicht regel­bedarfsrelevant, da nicht der Existenzsicherung dienend« definiert: zum ­Beispiel Ausgaben für Haustiere, Zimmerpflanzen, Gartenpflege, Tabakwaren, »Speisen und Getränke in Restaurants, Cafés, Eisdielen, an Imbissständen und vom Lieferservice« oder »alkoholische Getränke (substituiert durch Mineralwasser)«.

Beim »Bürgergeld«, das ebenfalls mit Sanktionsmöglichkeiten unterfüttert wird, soll der Regelsatz ab Januar kommenden Jahres 502 Euro pro Monat für Alleinstehende betragen; derzeit beträgt der Hartz-IV-Regelsatz für Alleinstehende 449 Euro pro Monat. Schneider zufolge müsste der Regelsatz jedoch bereits jetzt bei mindestens 678 Euro pro Monat liegen, um ein Leben in Würde zu ermöglichen. In manchen Medien hingegen erscheint es, als würden sich faule Arbeitslose den lieben langen Tag im Schlaraffenland vergnügen. Nach dem Kabinettsbeschluss zum »Bürgergeld« fragte der Focus, ob denn nun ein »Hängematten-Effekt« bei Arbeitslosen drohe. Und die Bild-Zeitung titelte: »Hartz-Irrsinn. Wer arbeitet, ist künftig der Dumme.«