Russische Spionage in Nord- und Ostsee

Kartographie und Spionage

Ende September führten Explosionen zu Lecks in den Nord-Stream-Pipelines. Seitdem wird darüber spekuliert, wer hinter der Sabotage steckt. Auffällige Bewegungen von Schiffen und Flugobjekten gab es im Gebiet von Unterwasserpipelines in Nord- und Ostsee bereits zuvor.

Zu Zeiten des Kalten Kriegs waren es größtenteils Fischer in schwedischen und norwegischen Küstengewässern, die von plötzlich vor ihnen auftauchenden sowjetischen U-Booten berichteten. Meist führte das höchstens zu launigen Artikeln und unkomischen Karikaturen über Begegnungen zwischen Bootbesatzung und Nacktbaderinnen an skandinavischen Stränden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Nicht erst seit am 25. beziehungsweise 26. September Lecks in den Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2 festgestellt wurden, bekommen Sichtungen russischer Boote mehr Aufmerksamkeit. Da die Lecks nur durch absichtliche Sprengungen verursacht worden sein können, wurde schnell russische Sabotage dahinter vermutet. Doch auch Kommentare und Karikaturen gibt es weiter, diesmal verbreitet von denjenigen, die false flag-Operationen der USA hinter den Detonationen vermuten.

Warnungen vor russischen Spionageoperationen hatte es schon vor Beginn des Ukraine-Kriegs gegeben, allerdings nur in Norwegen, was folgenlos blieb. Im Oktober 2021 waren eigenartige Bewegungen des russischen Forschungsschiffs »Akademik Lasarew« am norwegischen Kontinentalschelf aufgefallen, die Experten zufolge nur so zu erklären waren, dass das Schiff die Unterwasser­umgebung kartographiert. Norwegen ist der größte Gaslieferant Europas und ein weltweit führender Öllieferant. Vom Festlandsockel aus entlang der norwegischen Küste verläuft ein Netz von 8 800 Kilometer Rohrleitungen zum Transport nach Europa.

Immer wieder waren in den Gewässern rund um norwegische Ölplattformen nicht identifizierbare Drohnen und andere Flugkörper gesichtet worden.

Die der staatlich-russischen geologischen Forschungsgesellschaft Rosgeo gehörende »Lasarew« sei eindeutig ein Spionageschiff, hatte Ståle Ulriksen von der norwegischen Militärhochschule der Zeitung Aftenposten erklärt. Die Schiffe der »Akademik«- und »Mechanik«-Klasse seien »zivile Forschungsfahrzeuge, die für militärische Ziele verwendet werden«. Es gebe »keinen zivilen Grund, zum Beispiel die norwegische Infrastruktur unter Wasser zu kartographieren, wenn man die Ergebnisse nicht zu irgendetwas benutzen möchte«, sagte Ulriksen. »Es handelt sich um das klassische Erfassen von Schwachstellen und Industriespionage.« Rosgeo habe im Jahr 2021 über eine Strecke von mehr als 8 500 Kilometer Daten vom Grund der Nordsee gesammelt und britische, dänische und norwegische Gewässer geophysisch untersucht. Die »Lasarew« sei außerdem mit einem Schleppsonar zur Bodenabtastung ausgerüstet, einer Art Unterwassermikrophon, das bis auf den Meeresboden herabgelassen werden kann.
Von auf den Ölplattformen tätigen Unternehmen hatte die auf die Prävention von Wirtschaftsverbrechen spezialisierte norwegische Fachorganisation Næringslivets Sikkerhetsråd (NSR) ­immer wieder Meldungen über sicherheitsrelevante Vorfälle erhalten. Am 22. Oktober 2021 sprach NSR-Direktor Odin Johannessen, von 2017 bis 2019 Leiter der norwegischen Landstreitkräfte, in einer Pressemeldung erstmals über konkrete Bedrohungen von Firmen »durch ausländische Geheimdienstak­tivitäten«. Johannessen nannte als Beispiel ein »Unternehmen, das avancierte Unterwassertechnologie für die Offshore-Branche entwickelt und betreibt« und zum Ziel umfassender Spionageaktivitäten geworden sei. »Alle Aktivitäten des Unternehmens auf See werden von ausländischen Schiffen aus überwacht, die keinen Grund haben, vor Ort zu sein.«

Darüber hinaus seien die digitalen Datensysteme angegriffen und es sei versucht worden, Mitarbeiter gezielt zu Spionagezwecken rekrutieren. Die Auswertungen von Zugriffen auf Informationen wie die Mitarbeiterlisten der Firmen lege nahe, dass persönliche Informationen gesammelt werden, um damit in die Netzwerke dieser Personen zu gelangen – diese Art des Hackings wird als social engineering bezeichnet. Allerdings, so betonte Johannessen, betreffe das Problem auch Firmen anderer Sektoren, die etwa als Subunternehmen tätig seien: »Sie können von Geheimdiensten als Einfallstor für interessante Ziele benutzt werden, wenn beispielsweise eingeschleuste Reinigungskräfte Zugang zu Büros eines Technologieunternehmens haben«.

Am 18. März hatte der norwegische Inlandsnachrichtendienst PST vor der ­gestiegenen Gefahr russischer Angriffe auf die Öl- und Gasproduktion des Landes gewarnt. Immer wieder waren unter anderem in den Gewässern rund um Ölplattformen nicht identifizierbare Drohnen und andere Flugkörper gesichtet worden. Im September forderte die für die Ölindustrie zuständige staatliche Sicherheitsbehörde Petroleumstilsynet (Ptil) alle im Kontinentalschelf tätigen Reeder und Unternehmen auf, verdächtige Drohnenbewegungen zu melden. Sie seien nicht nur eine Gefahr für den Helikopterverkehr und ein Brandrisiko, sondern könnten auch »terroristische Handlungen verüben«.

Wie die in Norwegen veröffentlichten Warnungen wurde auch ein Bericht aus Irland über Spionage international nicht ernst genug genommen: Am 30. August wurde bekannt, dass die irischen Streitkräfte die Bewegungen einer aus mindestens drei Militärschiffen der russischen Seekriegsflotte bestehenden Gruppe genau beobachten. Der Konvoi um den Lenkwaffenkreuzer »Marschall Ustinow«, ein Schwesterschiff der im April durch ukrainische Neptun-Raketen versenkten »Moskwa«, hielt sich in der ausschließlichen Wirtschaftszone, allerdings nicht in den Hoheitsgewässern Irlands auf.

Nach einem Bericht der Irish Times sei der zur Nordmeerflotte gehörende Tanker »Wjasma« als Teil des Konvois identifiziert worden. Das Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation vermeldete am 11. Februar 2021, dass die »Wjasma« als Versorgungsschiff für Operationen auf lange Distanz eingesetzt werde. Das irische Militär beobachtete die Bewegungen der »Marschall Ustinow« genau, was an einem Vorfall im Februar liegt: ­Wenige Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte das Schiff an einem geplanten russischen Manöver in den internationalen Gewässern vor Cork teilgenommen, das als gezielte Provokation des Westens eingestuft wurde. Besorgnis erregte damals vor allem, dass die Raketenabschüsse umfassenden Übungen ganz in der Nähe von unter Wasser liegenden Kommunikationskabelleitungen stattfanden.