Kubas schwere Wirtschaftskrise führt zu Massenauswanderung

Kubas Krise

Ein schwerer Einbruch der kubanischen Wirtschaft führt zu massenhafter Auswanderung und heftigen Protesten. Es scheint, als sei das realsozialistische Gesellschaftssystem akut bedroht.

Kuba steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit der Revolution vor über 60 Jahren. Die Covid-19-Pandemie, das US-Embargo, Inflation und der globale Einbruch des Tourismus machen dem Inselstaat schwer zu schaffen. Die Versorgungskrise führt zu einem Massenexodus in Richtung USA. Sollte es der Regierung unter Präsident Miguel Díaz-Canel nicht gelingen, die akuten Probleme zu lösen, könnte im Winter Kubas realsozialistisches Gesellschaftssystem auf der Kippe stehen.

Am 6. Mai kam es im historischen Hotel Saratoga im Zentrum Havannas zu einer Gasexplosion – vier Tage vor der geplanten Wiedereröffnung nach der pandemiebedingten Schließung. 47 Menschen starben in den Trümmern, 52 weitere wurden verletzt. Das Unglück überschattete sowohl die große Maiparade zum Internationalen Tag der Arbeit auf der zentralen Promenade Paseo del Prado mit einem der wohl letzten öffentlichen Auftritte des ehemaligen, inzwischen 91jährigen Präsidenten Raúl Castro, als auch den Besuch des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador zwei Tage später. Es bedeutete außerdem einen herben Rückschlag für Kubas Hoffnung auf eine Rückkehr des Tourismus nach der Pandemie, die die Wirtschaft der Insel wieder in Schwung bringen soll.

Anders als in früheren Krisen fehlt den Kubanern momentan die Hoffnung, dass sich die Situation verbessern wird.

Große Hotels wie das Riviera oder das Meliá Cohiba an der Küstenpromenade Malecón sind aus Mangel an Nachfrage noch nicht wiedereröffnet, seit sie zu Beginn der Pandemie schließen mussten. Mit den Hotels bleiben auch viele Restaurants ­geschlossen; die Regale der zahllosen kleineren Geschäfte in den Hauseingängen, den Apotheken und den größeren staatlichen moneda libremente con­vertible-Läden (frei konvertierbare Währung, MLC), in denen nur in US-Dollar oder Euro gezahlt werden kann, sind leergefegt. Das Stadtbild von Havanna ist von langen Schlangen geprägt – Produkte einer urbanen Ökonomie, in der der revendedor, der Wiederverkäufer, ein eigener Berufszweig geworden ist. Selbst Vieja, der frisch sanierte historische Kern Havannas, ist bis auf die Straßenverkäufer, Geldwechsler und Guides, die auf die Rückkehr der Kreuzfahrtschiffe warten, menschenleer. Die Abschaffung des Peso convertible (CUC) für Touristen im Januar 2021 und die Umstellung auf die einheitliche Währung Peso ­nacional (CUP) hat sowohl den Schwarzmarkt als auch die Inflation befeuert – deren Rate der kubanischen Regierung zufolge Ende 2021 bei über 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr lag.

Zwar ist der offizielle Wechselkurs auf 1:24 festgelegt, allerdings bekommt man auf der Straße durchaus 100 bis 120 Pesos für einen US-Dollar. Für Ausländer mit ausreichenden Bargeld­reserven stellt das kaum ein Problem dar, für kubanische Arbeiterinnen hingegen, die auf die staatlich festgelegten Einheitslöhne von bis zu 6 000 Pesos angewiesen sind, sehr wohl. Denn mit den Straßenwechselkursen steigen in den inoffiziellen Geschäften die Preise der Waren des alltäglichen Bedarfs, die nicht in den staatlichen bodegas mit rationierten und subventionierten Lebensmitteln über Stempelkarten erhältlich sind. Im Sommer dieses Jahres wurden hier für eine Schachtel Zigaretten etwa 150 Pesos, für eine Dose Bier oder Coca-Cola 200 Pesos und für einen Liter Saft 300 Pesos verlangt; letzteres entspricht fünf Prozent eines durchschnittlichen Monatslohns. Milchprodukte sind so gut wie nicht verfügbar, Eier sind Glücksfunde. Vor allem Hygieneprodukte sind nur in den MLC-Läden erhältlich und somit für viele Kubaner ebenso unerreichbar wie ein Abendessen in einem der wenigen verbliebenen Restaurants. Websites für Essens- und Lebensmittelbestellungen aus dem Ausland florieren. Sie werden von Exilkubanern in Devisen bezahlt, um für Familienfeiern und Geburtstage daheim Unterstützung zu leisten. Die angespannte Versorgungslage hat allerdings auch hier zu einem deutlich ausgedünnten Angebot geführt.

Auf offiziellen Plakatwänden an den Straßenrändern macht die Regierung das US-Embargo gegen Kuba und insbesondere dessen Verschärfung durch die Regierung von Präsident Donald Trump für die derzeitige Lage verantwortlich, doch das Problem ist komplizierter. Natürlich tragen die unter Prä­sident Joe Biden fortgesetzten Sanktionen zum wirtschaftlichen Niedergang der Insel bei, ebenso wie die Auswirkungen der Pandemie auf den Tourismus. Um die im US-Wahlsystem überproportional wichtigen Stimmen der kubanischen Exil-Community in Florida zu gewinnen, haben sowohl Demo­kraten als auch Republikaner die seit den sechziger Jahren bestehenden ­US-Sanktionen gegen den Inselstaat immer aufrechterhalten. Die einzige Ausnahme stellt hier die Annäherungspolitik in Präsident Barack Obamas zweiter Amtszeit dar, die allerdings unter Trump mit 240 neuen Sanktionen wieder konterkariert wurde. Biden machte bisher wenig Anstalten, an die Politik Obamas anzuknüpfen, die US-Botschaft in Havanna wird von einem Geschäftsträger mit einem Minimum an Personal betrieben und der Handel Kubas mit Drittstaaten und Privatunternehmen bleibt eingeschränkt. Die Gespräche zur Wiederaufnahme des Familienzusammenführungsprogramms und zur Vergabe von 20 000 Visa jährlich liefen aber weiter. Ende September teilte die US-Botschaft nun mit, doch wieder ab 2023 in vollem Umfang Migrationsvisa bearbeiten zu wollen – erstmals seit 2017. Das Personal soll aufgestockt und die legalen Wege für Kubaner, in die USA einzureisen, erweitert werden.

Anders als in früheren Krisen, wie der Nahrungsmittelknappheit in der »Sonderperiode in Friedenszeiten« nach dem Zerfall der Sowjetunion, fehlt den Kubanern momentan allerdings die Hoffnung, dass sich die Situation verbessern wird. Hinzu kommt, dass mit dem Abtritt von Raúl Castro die alte Garde der Revolution endgültig die politische Bühne verlassen hat und es dem Parteisoldaten Díaz-Canel an Charisma fehlt, um die zerfallende Gesellschaft zusammenzuhalten. Die Aussage »Mit Fidel wäre uns das nicht passiert!« ist bei den älteren Generationen auf den Straßen Havannas häufig zu hören – die Jüngeren gehen einfach. Der Flug ins visabefreite Bruderland Nicaragua und das Schleusen über Land durch mexikanische Kartelle an die US-Grenze kosten zusammen zwischen 9 000 und 10 000 US-Dollar, zumeist bezahlt durch Überweisungen von Familienmitgliedern im Ausland. Zahlen der US-Zoll- und Grenzschutzbehörde zufolge haben im Geschäftsjahr 2022 fast 200 000 Kubaner die USA erreicht – mehr als bei der sogenannten Mariel-Bootskrise 1980. ­Unter denen, die sich diese Passage nicht leisten können, wächst die Un­ruhe. Im Juli 2021 gab es auf der Insel die ersten Massenproteste seit Jahrzehnten – wenn auch die aus Miami und Washington verbreiteten Dar­stellungen eines »Volksaufstands« übertrieben sein dürften. Die folgende politische Repression führte im Mai zu mehrjährigen Haftstrafen gegen Beteiligte und zu einer weiteren Zunahme der Ausreisen.

Die US-Regierung scheint im Umgang mit der Krise auf Kuba bisher zu schwanken zwischen dem Versuch, ­illegale Migration einzudämmen, und der Gelegenheit, das ungeliebte Regime endgültig abzuräumen. In den letzten Tagen der Regierung Trump wurde Kuba wieder in die Liste der Terror unterstützenden Staaten aufgenommen, was nun unter Biden zur ­vermehrten Verweigerung von visa wai­vers unter dem elektronischen Reisegenehmigungsverfahren Esta – es ermöglicht, ohne langwieriges Antragsverfahren für einen Aufenthalt von bis zu 90 Tagen in die USA einzureisen – für Touristen führt, die zuvor Kuba besucht hatten. Das ist zweifellos ein weiterer Schlag für den Tourismus auf der Insel. In der Zwischenzeit hat die kubanische Regierung auf die Diskrepanz zwischen offiziellem und faktischem Wechselkurs reagiert und im August den CUP auf 1:110 im Verhältnis zum US-Dollar abgewertet. Die Änderung führte kurzfristig zu einem Sprung der inoffiziellen Wechselrate auf 1:180 und zu einer weiteren Verknappung von Waren auf dem inoffiziellen Markt, so dass sich etwa die Brotpreise in den vergangenen Monaten mehr als verdreifacht haben. Tiefgreifende Re­formen, die die Versorgungskrise beheben und damit die anhaltende Massenauswanderung einschränken könnten, sind bisher nicht in Sicht.