Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux unterstützt die BDS-Bewegung

Mit zweierlei Maß

Annie Ernaux hat den Literaturnobelpreis erhalten. Ihre Unterstützung der BDS-Bewegung scheint kaum jemanden zu stören.

Alle zwei Jahre vergibt die Stadt Dortmund den Nelly-Sachs-Preis an Autorinnen und Autoren, die gute Bücher schreiben und außerdem »die geistige Toleranz und Versöhnung unter den Völkern verkündet und vorgelebt haben«. Vor drei Jahren sollte er an die britisch-pakistanische Schriftstellerin Kamila Shamsie gehen. Doch Shamsie ist BDS-Unterstützerin. Einen nach einer jüdischen Exilantin benannten Preis an eine Unterstützerin einer antisemitischen Kampagne zu verleihen, das ging dann doch zu weit – die Jury zog die Entscheidung zurück. Das hatte einen ebenso notorischen wie obligatorischen offenen Brief deutscher und internationaler Kulturarbeiterinnen und -arbeiter zur Folge. Die Aberkennung untergrabe die Meinungsfreiheit, kritisierten sie. Unter den Unterzeichnenden war auch Annie Ernaux.

Ernaux, der vergangene Woche der Literaturnobelpreis­ ­zugesprochen wurde, ist eine fleißige Unterzeichnerin offener Briefe. Nicht nur der BDS-Unterstützerin Shamsie eilte sie mit der Tastatur zur Hilfe, sondern der »palästinensischen Sache« als solcher, und das gleich mehrfach. Die englischsprachige Version der israelischen Nachrichtenseite YNet titelte unumwunden: »BDS supporter awarded Nobel Prize in Literature«.

2019, als der Eurovision Song Contest in Tel Aviv stattfinden sollte, unterschrieb Ernaux gemeinsam mit über 100 anderen französischen Künstlerinnen und Künstlern einen Boykottaufruf. Nicht einmal im französischen Fernsehen sollte das Schlagertreffen zu sehen sein. Ein Jahr zuvor erzürnte sie sich mit etwa 80 anderen über eine Intensivierung der kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und Israel. In dem Brief war davon die Rede, es sei eine »moralische Verpflichtung«, gegen eine »Normalisierung der Beziehungen« mit Israel zu sein. Warum genau, erklärte unter anderem ein Brief, den Ernaux im Mai 2021 unterzeichnete, kurz nach den Auseinandersetzungen in Israel und dem Gaza-Streifen: »Es ist falsch und irreführend, dies als einen Krieg zwischen zwei gleichberechtigten Seiten darzustellen. Israel ist die kolonisierende Macht. Palästina ist kolonisiert. Das ist kein Konflikt: das ist Apartheid.«

So weit, so schlecht. Doch an Ernaux‘ politischen Positionen scheint sich kaum jemand zu stören. Die Begeisterung über die Verleihung ist einhellig. Klar, vom ästhetischen Standpunkt ist sie verdient. Aber wie anders war es, als Peter Handke 2017 den Preis (zu Recht) bekam und (zu Recht) scharfe Kritik für seine Positionen zum Jugoslawienkrieg erfuhr. Nun war Ernaux zwar nicht bei der Beerdigung eines Kriegsverbrechers zu Gast, aber sie forderte die Freilassung des libanesischen Terroristen Georges Abdallah, der 1982 für den Mord an einem US-amerikanischen und einem israelischen Diplomaten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Stets korrekte Literaten können in niemandes Sinne sein, die Bücherregale wären sonst leer. Doch wer die Preisverleihung an Handke kritisierte, bei Ernaux aber kein Problem sieht, misst mit zweierlei Maß – oder hat eben kein Problem mit Antisemitismus.

Der Nobelpreis will politisch sein. In dieser Hinsicht ist die Entscheidung für Ernaux bei der aktuellen Weltlage ohnehin keine sonderlich mutige (er hätte ja auch an Salman Rushdie, Serhij Zhadan oder eine Autorin aus Afghanistan oder dem Iran gehen können). Wobei, Ernaux schreibt immerhin über Armut und über das Frausein. Das macht die Verleihung in Zeiten feministischer Abwehrgefechte in vielen westlichen Ländern (und nicht nur da) dann doch politisch im positiven Sinne.