Auszug aus der Autobiographie »Der Pass mein Zuhause. Aufgefangen in Wurzellosigkeit«

Vom Segen der Wurzellosigkeit

In Rumänien geboren, in Wien zur Schule gegangen, in New York City studiert: Der US-amerikanische Soziologe und Politikwissenschaftler Andrei S. Markovits erzählt von den Orten, Sprachen und Forschungen, die seine Biographie geprägt haben, und den Vorzügen des Kosmopolitismus. Warum Marx den Nationalismus unterschätzt hat, die Hunderettung die Welt ein bisschen besser macht und er nicht gern gefragt wird, wo er herkommt, berichtet er im folgenden Auszug aus seiner Autobiographie »Der Pass mein Zuhause. Aufgefangen in der Wurzellosigkeit«.
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Die ersten neuneinhalb Jahre meines Lebens verbrachte ich als Einzelkind in einer Ungarisch sprechenden, bürgerlichen jüdischen Familie in einer Wohnung in der Kutusowstraße Nummer 1 im Zentrum von Timişoara in Rumänien. Timişoara heißt auf Ungarisch Temesvár und auf Deutsch ­Temeschburg oder Temeschwar. Mit damals 142 257 Einwohnern war es die drittgrößte Stadt des Landes. 75 855 Menschen hatten als Erstsprache Rumänisch, 29 968 Ungarisch, 24 326 Deutsch, der Rest verteilte sich auf Serbisch und Bulgarisch. Kurz gesagt, Timişoara war ein Ort der Vielsprachigkeit, wie es seiner multikulturellen Geschichte am östlichen Rande des Habsburger Reiches entspricht.

Zudem lag die Stadt mitten in einer Welt, die den berühmt-berüchtigten Begriff des »wurzellosen Kosmopoliten« hervorgebracht hat, ein Euphemismus für »Jude«, mit dem die jüdische Wurzellosigkeit, ihr Kosmopolitismus und ihre Bodenlosigkeit denunziert wurden. Die von Land zu Land ziehenden Juden galten als eine Gefahr für die sozialistische Vision einer klassenlosen Gesellschaft. Und auch die seit vielen Jahren – oft sogar Jahrhunderten – ansässigen Juden blieben aufgrund der Fremdartigkeit ihrer Religion, ihrer Essgewohnheiten, ihrer Kleidung und ihres gesamten Habitus zutiefst suspekt.

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