Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Jeremy Morris über Russland im Kriegszustand

»Die Menschen sind politisch isoliert«

Jeremy Morris erforscht seit vielen Jahren, wie Russen aus der Arbeiterklasse leben und über ihr Land denken. Er ist sich sicher: Weitverbreitete Kriegsbegeisterung gibt es nicht. Trotzdem entwirft er ein düsteres Szenario der politischen Entwicklung Russlands.
Interview Von

Was für eine Art Forschung betreiben Sie in Russland?

Ich betreibe Feldforschung in einer Provinzstadt in der Region Kaluga bei Moskau, die Teil des sowjetischen militärisch-industriellen Komplexes war, aber eine heftige Deindustrialisierung erlebt hat. Ich verbringe immer wieder längere Zeit dort und habe langfristige Beziehungen zu unterschiedlichen Personen aufgebaut. Diese Art der Feldforschung nennt man oft ethnographisch oder teilnehmende Beobachtung. Mein Thema ist eigentlich die alltägliche po­litische Ökonomie und der autoritäre Neoliberalismus, aber das ist derzeit von der Frage nach der Natur des russischen Regimes und seinem Verhältnis zu seinen Bürgern überschattet. Darüber schreibe ich derzeit ein Buch.

Wie hat der Krieg die Wirtschaft dieser Region beeinträchtigt?

In Kaluga wurde früh versucht, ausländisches Kapital in sogenannten Sonderwirtschaftszonen anzuziehen. Kurz nachdem ich in den nuller Jahren begann, dort zu forschen, siedelten sich Konzerne wie VW, Samsung, Mitsubishi sowie andere Maschinen- und Autokonzerne an. Deshalb war Kaluga eine der von den Folgen der Invasion am härtesten betroffenen Regionen. Ausländische Konzerne bieten die am besten bezahlten Industriearbeitsplätze, aber viele davon existieren jetzt nur noch auf dem Papier. Die Gehälter werden jeden Monat reduziert, und nächstes Jahr werden die meisten Arbeitsplätze ganz verschwunden sein.

»Die Art der militarisierten Herr­schaft in den besetzten Gebieten der Ukraine könnte auch die Zukunft Russlands sein, eine Quasi­diktatur ähnlich dem Regime in Nordkorea.«

Wie wirkt sich der Krieg auf die russische Ökonomie insgesamt aus?

Mindestens wird es eine schwere Rezession geben, und der Staat braucht derzeit seine Devisenreserven auf, was langfristige Folgen haben wird. Russland hat die Chance verpasst, die Reserven aus dem Öl- und Gasverkauf in eine Diversifizierung der Wirtschaft zu investieren, jetzt muss es damit beispielsweise Gehälter oder Rentenzahlungen stabilisieren. Der ökonomische Schock wird für die meisten Menschen erst in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres vollständig spürbar werden.

Wie äußern sich Ihre Gesprächspartner über den Krieg?

Es ist sehr üblich, dass sie sich Ideen aneignen, die es ihnen erlauben, zumindest einen Teil dessen, was passiert, zu verdrängen oder abzuwehren. Einer meiner Informanten arbeitet bei VW und verdiente früher das Vierfache des nationalen Durchschnitts. Politisch war er zufrieden damit, passiv zu bleiben oder das Regime und die Invasion zögerlich zu unterstützen. Er schreibt mir also Dinge wie: Russland musste das tun, weil die Ukraine voller Nazis ist und weil russischsprachige Menschen unterdrückt wurden, oder der Krieg sei ein Kampf zwischen Russland und dem Westen. Oder verzweifeltere Verschwörungstheorien: Präsident Selenskyj sei drogenabhängig, die Kiewer Regierung eine Verbrecherbande und so weiter. Das ist eine sehr typische Reaktion, die ich mit dem Begriff »defensive Konsolidierung« beschreibe. Ich bin nicht der Ansicht, dass eine große Mehrheit der Russen enthusiastisch den Krieg unterstützt. Aber die Mehrheit lehnt den Krieg auch nicht ab, obwohl ich glaube, dass die Zahl der aktiven und der passiven Kriegsgegner, also solche, die ihre Ablehnung nur in privaten Gesprächen äußern, größer ist, als es nach den Umfragen den Anschein hat.

Warum sieht man dann nicht mehr öffentliche Ablehnung des Krieges?

Das Klima der Angst besteht nicht ohne Grund. Selbst milde Ablehnung der ­of­fiziellen Politik kann schwere Konsequenzen haben, vom Verlust des Arbeitsplatzes bis zu einer Gefängnisstrafe. Viele, die sich in der EU über die angebliche Feigheit der Russen empören, würden in deren Situation genau so handeln.

Wie erfahren gewöhnliche Menschen diese Repression?

Der staatliche Beschäftigungssektor ist beispielsweise sehr groß. Eine meiner Informantinnen war Psychologin an einer weiterführenden Schule. Vor zwei Jahren gab sie ein Like für einen Post auf Vkontakte ab, dem russischen Facebook, in dem eine vorsichtige Kritik an den Verfassungsänderungen formuliert war, die Putin erlaubten, dauerhaft im Amt zu bleiben. 48 Stunden später war sie arbeitslos. Jeder Russe weiß, dass alle Posts auf Vkontakte überwacht werden können – deshalb ist die Debatte dort auch so langweilig. Auf Telegram, wo die Leute anonym sind, gibt es viel lebhaftere Diskussionen.

Wie waren die Reaktionen auf die Mobilisierung?

Viele hatten natürlich Angst. Menschen aus der Mittelschicht sind oft ins Ausland geflüchtet oder suchten sich Schutz auf institutionellem Wege, etwa durch medizinische Zertifikate oder Bestechung. Aber Männer aus der Arbeiterschicht haben kaum eine Wahl. Sie sagen oft, dass sie das Gefühl haben, dass sie sich nirgendwo verstecken könnten. Ich habe mit keiner einzigen Person gesprochen, die über die Aussicht auf Rekrutierung begeistert wäre. Solche gibt es auch, aber es ist eine kleine Minderheit.

Wird es Widerstand gegen die Mobilisierung geben?

Wenn es im Winter oder Frühling eine weitere Mobilisierungswelle gibt, bin ich optimistisch, dass es dagegen Widerstand geben wird, aber es ist schwer zu sagen, welche Form das annehmen könnte.

Wenn viele Russen nicht voll hinter dem Krieg stehen, wie rechtfertigen sie ihre passive Haltung?

Die meisten leugnen in gewisser Weise die Realität, um mit dieser kognitiven Dissonanz klarzukommen. Sie sagen Dinge wie: »Ja, ich weiß, dass es ein Krieg ist, dass viele ukrainische Zivilisten getötet werden, dass der Krieg nicht provoziert worden ist, aber es ist doch die Schuld des Westens.« Oder vielleicht: »Putin hat eine schlechte Entscheidung getroffen, unsere Soldaten töten viele Menschen, aber wenn ich nicht mein Land unterstütze, was wäre ich dann für eine Person – schließlich sind schon so viele russische Soldaten gestorben.« Oder: »Ich will, dass es möglichst schnell zu Ende geht, und der beste Weg dahin ist, dass die russische Armee siegt.«

Es gibt also eine weitverbreitete Weigerung, die Realität zu akzeptieren oder Verantwortung auf sich zu nehmen. Die meisten Russen können nicht akzeptieren, dass ihr Staat dieser brutale Aggressor ist. Ich bin allerdings überrascht, dass die Menschen im Westen darüber so überrascht sind. In den meisten Gesellschaft ist es nur eine Minderheit, die wirklich anerkennt, was für eine Gewalt ihr eigener Staat ausübt. Menschen in der EU reagieren auch defensiv, wenn man sie mit der EU-Flüchtlingspolitik oder den ­Kriegen konfrontiert, für die westliche Staaten verantwortlich sind.

Aber es muss doch etwas Spezifisches in der russischen Gesellschaft geben, das diese Passivität erklärt.

Ein Aspekt sind die ökonomischen Verhältnisse, in denen die meisten Russen leben. Russland verbindet einen autoritären Staat mit einer neoliberalen Rationalität, die besagt, dass Menschen selbst für ihre ökonomische Stellung verantwortlich sind, und dahinter steht ein starker Zwangsapparat, der jeden fertigmachen kann, der sich dagegen auflehnt. Deshalb ist es in gewisser Weise rational, passiv zu bleiben. Sehr viele Menschen sind entbehrliche und austauschbare Glieder einer sehr ausbeuterischen Niedriglohnökonomie. Sie haben keine starke Erfahrung beim Wahrnehmen wirtschaftlicher oder Arbeiterrechte. Das trägt zur politischen Passivität bei.

Und was ist mit der Politik, wenn man von der Angst um den Arbeitsplatz absieht?

Putins größte Leistung war es, die Quellen organisierten Handelns in der Gesellschaft zu zerstören. Gruppen, die sich für ökologische Themen, für Arbeiterrechte oder wie die mittlerweile verbotene Gruppe Memorial für die Beschäftigung mit der Gewalt der Vergangenheit einsetzten – alles, was Quelle eines anderen Denkens sein könnte, wurde systematisch zerstört. Die Folge ist, dass die Menschen politisch isoliert sind. Es ist schwer zu sagen, wo eine politische Organisierung gegen den Krieg herkommen könnte. Hinzu kommt, dass gewöhnliche Menschen ein historisches Bewusstsein besitzen für die schlimmen Dinge, die ihre Staaten Menschen wie ihnen angetan haben, also in Russland für das umfassende Gewaltpotential des Staates im 19. und 20. Jahrhundert.

Was ist mit nichtpolitischen zivilgesellschaftlichen Gruppen?

In Russland sind nur sehr wenige Menschen ehrenamtlich tätig. Allerdings hat der Staat solche Organisationen geschaffen, die er meint, kontrollieren zu können, um die Lücken zu füllen, die die Zerstörung des Sozialstaats gerissen hat. Wenn das Regime weiter geschwächt wird, könnten diese Organisationen autonomer agieren und ein Vehikel der Politisierung werden, wenn die Menschen merken, wie zynisch sich der Staat den meisten Menschen gegenüber verhält.

Könnte der Krieg nicht auch die Unterstützung der Bürger für die Regierung stärken, wenn diese an pa­triotische Gefühle appelliert?

Im Krieg sind Botschaften, die Loyalität fordern und sich gegen jeden Dissens richten, natürlich sehr effektiv. Aber ich würde auf einem der Grundsätze des materialistischen Denkens bestehen, nämlich dass der Lebensunterhalt entscheidend ist. Wenn der Staat nicht mehr für seine Bürger sorgen kann und die Privatwirtschaft, die ebenfalls vom Staat dominiert wird, auch in der Krise ist, könnten sie anfangen, der Regierung die Schuld zu geben. Die westlichen Regierungen müssen nicht nur die Ukraine unterstützen, sondern auch kommunizieren, dass dies ein Krieg ­gegen das russische Regime ist, nicht gegen die russischen Menschen. Das mag eine fast unmögliche Aufgabe sein, aber bisher hat man das nicht sehr ernst genommen. Die Alternative wäre besorgniserregend: Wenn Russland militärisch besiegt wird und sich die Überzeugung, dass die westlichen Staaten daran schuld sind, und eine Art Dolchstoßlegende durchsetzen, könnte das Russland wirklich in eine faschistische Gesellschaft verwandeln.

Ist Russland nicht schon auf diesem Weg?

Selbst eine lose Definition von Faschismus trifft nicht auf Russland zu. Beim Faschismus geht es um die Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung, wovor Putin immer Angst hatte. Die russische Kriegspropaganda ist überhaupt nicht effektiv. Natürlich gibt es auch in Russland Menschen mit faschistischem Denken, also eine Minderheit, die den »Z-Kult« wirklich mitmacht und begeistert darüber spricht, Ukrainer zu töten. Aber für die meisten Menschen sind solche Leute Versager. Es gibt zwar einen weitverbreiteten militärischen Patriotismus, der auf nostalgischen Symbolen und auf antiwestlichen Stimmungen beruht. Aber das ist etwas anderes als diese aktive Kriegspropaganda, die nur wenige sich aneignen.

Wie könnte sich das russische ­Regime entwickeln, wenn der Krieg andauert?

Alle ökonomische und militärische Macht scheint mehr oder weniger unter Kontrolle der Kriegspartei in der Führungsschicht zu stehen. Es gibt also in der Staatsführung keine Gruppe mehr, aus der ein Politikwechsel kommen könnte. Ein Problem ist die fehlende Autonomie Putins selbst. Die extremen Militaristen um ihn herum haben ihn von dieser Invasion überzeugt, und jetzt kann er nicht mehr zurück. Ich meine damit nicht diese naive Rhetorik, die wir im Westen oft hören, dass wir Putin eine gesichtswahrende Lösung anbieten müssten – man kann mit niemandem verhandeln, der eine so kompromisslose Position einnimmt und gezeigt hat, dass er Verhandlungen nicht ernst betreibt. Ich meine, dass es in Russland selbst kein alternatives Machtzentrum mehr gibt, das den Kurs wechseln könnte.

Was heißt das für die Zukunft?

Ich befürchte, dass die Art der militarisierten Herrschaft in den besetzten ­Gebieten der Ukraine auch die Zukunft Russlands sein könnte, eine Quasidiktatur ähnlich dem Regime in Nordkorea, wie ich kürzlich in einem Artikel für Open Democracy geschrieben habe. Natürlich würde es anders aussehen als in Nordkorea, denn Russland hat viele Ressourcen, ist weniger isoliert und hätte immer noch mehr gesellschaftlichen Pluralismus, allein weil es so eine gebildete Bevölkerung hat. Aber die Art der Herrschaft, die schon vor der Invasion im besetzten Donbass existierte, könnte das Modell für Russland werden: eine vollständige Erosion des Rechtsstaats, mehr offene Korruption, offenere Konflikte in der Führungsschicht, die auch mit Gewalt ausgetragen werden.

Der Lebensstandard würde weiter absinken und die Bürger würden die ­Vorstellung verlieren, dass sie in einer funktionierenden Gesellschaft leben, in der man sich auf die Institutionen verlassen kann – was in Russland heute noch größtenteils der Fall ist. Damit einher ginge eine Ausweitung und Intensivierung der Propaganda. Diese können die meisten Menschen heute noch einfach ignorieren. Und die Zensur würde strenger werden. Da gibt es einiges an Potential, das der Staat bisher noch nicht ausgeschöpft hat.

 

Jeremy Morris

Jeremy Morris ist Professor für Globale Studien an der Universität Aarhus in Dänemark. Er erforscht mit ethnographischen Methoden die politische Ökonomie und die Klassengesellschaft in postsowjetischen Ländern. Sein zuletzt veröffentlichtes Buch ist »Everyday Post-­Socialism – Working-Class Communities in the Russian Margins« (2016). Auf seinem Blog Postsocialism.org schreibt er über die Auswirkungen des Kriegs auf die russische Gesellschaft.