Small Talk mit Ragna Vogel über ein Hilfsnetzwerk für ukrainische NS-Verfolgte

»Ihre Lage war immer schon prekär«

Vor dem russischen Überfall am 24. Februar lebten Schätzungen zufolge etwa 42 000 Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine. Um sie zu unterstützen, hat sich im März das »Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine« gegründet. Die »Jungle World« sprach mit der verantwortlichen Projektkoordinatorin Ragna Vogel über ihre Arbeit.
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Wie kam das Projekt zustande?

Kurz nach dem russischen Überfall haben sich etwa 30 Gedenkstätten und Initiativen aus Deutschland, die im Bereich der NS-Aufarbeitung tätig sind, zusammengefunden und sich gefragt, wie sie helfen können. Viele von ihnen haben Kontakte zu NS-Überlebenden, deren Angehörigen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Gedenkstätten in der Ukraine. Sie haben beschlossen, das Hilfsnetzwerk ins Leben zu rufen und Spenden zu sammeln, um die Überlebenden finanziell und materiell zu unterstützen. Darunter sind ehemalige KZ-Häftlinge, minderjährige Verfolgte, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Roma, Jüdinnen und Juden.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Die gesammelten Spenden leiten wir an unsere Netzwerkpartner in der Ukraine weiter. Das sind Privatpersonen und verschiedene Opferverbände wie die Ukrainische Union der Häftlinge – Opfer des Nazismus und die sich für Roma einsetzende Nichtregierungsorganisation Arca (Youth Agency for the Advo­cacy of Roma Culture), zu denen schon ein langjähriger Kontakt besteht. In einigen Fällen kaufen diese direkt Medikamente und Lebensmittel und verteilen sie an die Menschen. Die meisten Überlebenden sind sehr alt. Sie wollen und können nicht mehr aus der Ukraine fliehen, manche sind bettlägerig. Nur sehr ­wenige der Überlebenden kommen nach Deutschland. Für sie versuchen wir in unserem großen Netzwerk Ansprechpartner zu finden.

Unter welchen Bedingungen haben die NS-Überlebenden vor dem russischen Angriff gelebt?

Ihre Lage war, wie auch in anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, immer schon prekär, da die Renten sehr niedrig sind und die Menschen im Alter mit ihren gesundheitlichen Problemen ziemlich alleingelassen werden. Die jüdischen Gemeinden in der Ukraine besitzen zwar ein relativ gutes Wohlfahrts- und Sozialnetzwerk, viele der Überlebenden sind aber nicht in diese Strukturen eingebunden. Genau diese Menschen, die bisher nicht so viel erhalten haben, wollen wir erreichen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Eine Netzwerkpartnerin von uns lebt in Sdolbuniw im Gebiet Riwne, sie kümmert sich als Mitarbeiterin der ukrainischen Stiftung Gegenseitige Verständigung und Toleranz schon lange um die Überlebenden in der Gegend. Seit September haben wir gemeinsam mit ihr Patenschaften eingerichtet. Mittlerweile können wir 100 Menschen bis Ende des Winters eine ­monatliche Unterstützung von 40 Euro zusichern. Zuzüglich der Rente ist das genau die Summe, die für die Grundversorgung einer Person ausreicht, also Lebensmittel, Medikamente und Heizung. Ganz wichtig ist, dass sich die Menschen nicht alleingelassen fühlen. Unsere Partnerin erzählt, dass der ohnehin bestehende Gesprächsbedarf der Überlebenden durch den Krieg gewachsen sei. Der Krieg bedroht nicht nur ganz unmittelbar ihr Leben, auch der tägliche Bombenalarm ruft Erinnerungen wach, die sie lange Zeit nicht zugelassen haben.

Das klingt, als würde sich die Rolle der Gedenkstätten verändern.

Ich finde es gut, dass sich die Gedenkstätten nicht mehr nur mit den Toten beschäftigen, sondern stärker auch mit den Lebenden. Das war vorher nicht der Fall. Man hat zwar die Überlebenden zu Gedenkveranstaltungen eingeladen, sich aber nicht in einem umfassenden Sinne für sie verantwortlich gefühlt. Dies hat sich nun geändert.