Édouard Louis’ neuer Roman „Anleitung ein anderer zu werden“

Le sexe et la ville

In einer Reihe mit Derrida und anderen Größen: Édouard Louis schildert in seinem neuen Roman »Anleitung ein anderer zu werden« die schon bekannte Geschichte seines Aufstiegs. Aber wie er sie erzählt, ist immer wieder spektakulär.

Er benötigte das Geld, um seine Zahnarztrechnung zu bezahlen: Édouard Louis’ neuer Roman »Anleitung ein anderer zu werden« beginnt mit ­einer Sexszene. Darin beschreibt er einen Escort-Termin als »Nutte« bei einem Mann, der ganz anders aussieht als auf den vorteilhaften Fotos, die er geschickt hatte. »Ich versuchte es wieder«, schreibt Louis, »rieb mich an ihm, auf ihm, verzweifelt, ich mühe mich ab, versuchte, mir einen anderen Körper unter meinem vorzustellen, oder vielmehr einen anderen Körper auf meinem, weil das die Stellung war, bei der ich normalerweise geil wurde, ich konzentrierte mich, aber die Berührung mit seiner kalten trockenen Haut holte mich immer wieder in die Wirklichkeit zurück, in seine Gegenwart.« Scham, Gerüche, Erektionsprobleme, Tränen – das ist die zeitlich losgelöste Exposi­tion des autobiographischen Romans, die den Leser mit den Verwerfungen schwuler Sexarbeit konfrontiert.

»Eddy«, so der Spitzname des Autors, ist ganz schön weit gekommen. »Anleitung ein anderer zu werden« (»Changer: méthode«, 2021) ist bereits der fünfte Roman des 1992 geborenen Autors, der in seinen Autofiktionen immer wieder die Geschichte seines Aufstiegs aus prekären Verhältnissen geschildert hat. Auch im jüngsten Buch geht es um die Eman­zipation und das Abstandnehmen von der Armut, der Homophobie und dem Rassismus in dem nordfranzösischen Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Auch dieses Buch handelt von Abschieden, Flucht und Brüchen, etwa dem Bruch mit seinem alkoholkranken Vater, der in der Fabrik geschuftet hatte, und mit der Mutter, deren ­Zigarettenqualm er vor dem ständig laufenden Fernseher einatmen musste, obwohl er viel lieber Ruhe zum Lesen gehabt hätte. Anders als in seinem dritten Roman »Wer hat meinen Vater umgebracht« geht es diesmal nicht konkret um die Auswirkungen der neoliberalen Politik von Nicolas Sarkozy oder Emma­nuel Macron auf die Arbeiterschicht, sondern mehr um Selbstkonzepte, Emanzipation von den Verhältnissen und die eigene »Metamorphose«.

Ob das Engagement bei der Theater-AG auf dem Gymnasium, das Abitur, das Studium, sein Engagement in einer linksradikalen Partei oder die Suche nach schwulem Sex – alles geschieht,
um Distanz zum verhassten Dorf herzustellen und Teil der bürgerlichen Elite zu werden.

Als Schüler auf dem Gymnasium freundet er sich mit Elena an, die ihm die Welt des linksliberalen Bürgertums eröffnet, Zugang zur Beschäftigung mit Kunst und Politik verschafft, aber auch kritisch auf das ­eigene Milieu schaut. Er beginnt, im Maison de la Culture in Amiens zu arbeiten. Louis schreibt: »Das Theater sollte mich vor der Armut retten, vor der Gewalt, vor dem Dorf.« Nach seiner Station in Amiens bewirbt er sich bei der Pariser Eliteuniversität École normale supérieure, auf der auch Jacques Derrida und Michel Foucault studiert hatten. Louis lernt ­Didier Eribon kennen, mit dem er bis heute gut befreundet ist.

Der Erzähler ist ein Getriebener und seine Handlungen sind instrumenteller Natur. Ob das Engagement bei der Theater-AG auf dem Gymnasium, das Abitur, das Studium, sein Engagement in einer linksradikalen Partei oder die Suche nach schwulem Sex – alles geschieht, um Distanz zum verhassten Dorf herzustellen und Teil der bürgerlichen Elite zu werden: »Sex mit einem Mann zu haben, mich von ihm penetrieren zu lassen, mir den nordfranzösischen Dialekt abzutrainieren, ins Kino zu gehen, das alles entsprang demselben Willen, gehörte zu demselben Prozess, der Flucht vor meiner Vergangenheit.«

Er sucht seinen Antrieb in politischer Theorie, und stets geht es darum, die eigene Entwicklung zu beschleunigen. Sein Wunsch ist es, »sämtliche Spuren des Menschen«, der er »bisher gewesen war, auszu­löschen« und Rache zu üben. Wie schon in »Wer hat meinen Vater umgebracht« wird sein Vater ange­sprochen. Etwas selbstüberhöhend schreibt Louis: »Ich weiß nicht, wie man schon in der Kindheit einen so präzisen und in gewissen Sinne so ­erwachsenen und anachronistischen Gedanken haben kann, aber ich weiß noch genau, dass ich aus dem Dorf wegwollte, dass ich reich, mächtig und berühmt werden wollte, denn die Macht, die ich dank meines Reichtums oder meiner Berühmtheit erlangen würde, wäre eine Rache an dir (dem Vater; J. B.) und an der Welt, die mich nicht gewollt hatte.«

Stellenweise schmerzt die Lektüre von »Anleitung ein anderer zu werden«. Die Wut auf die eigene Klassenherkunft, der schwule Selbsthass (»Ich bin schwul, der Satz pochte in meinem Schädel«), die innere Zer­rissenheit sowie der unbedingte Aufstiegswille (»Zeig es ihnen, beweis ­allen, dass du besser bist als sie«) spiegeln sich im Erzähltempo und auf der semantischen Ebene wider. Louis gibt einem kaum Zeit zum Atem­holen, und während der Lektüre ertappt man sich bei der Frage: »Wie soll man das alles emotional verarbeiten?« Der Roman wechselt zwischen dichter Beschreibung, Wiederholungen und erinnernden Rückblenden. Während im einen Moment noch die Derrida-Rezeption Gegenstand der Erzählung ist, wird im nächsten eine traumatisierende Szene aus der Kindheit dargestellt. Ein Mitschüler hatte ihm mitgeteilt, seine Unterhose habe so viel gekostet wie der Inhalt von Eddys ganzem Kleiderschrank.

Eine Stärke von »Anleitung ein anderer zu werden« liegt darin, wie der Konkurrenzdruck im akademischen Milieu thematisiert wird. ­Louis leugnet den eigenen Selbstoptimierungswahn nicht und geht hart mit sich selbst ins Gericht. Die Brüche und die inhärente Trauer werden sprachgewaltig reflektiert. Um die Beschränkungen der Herkunft abzustreifen, werden Freundschaften instrumentalisiert oder vernachlässigt, wie die zu Elena. (»Sie verachtete mich dafür, dass ich mich blind und naiv den Regeln der Bourgeoisie unterwarf.«)

Der unbändige Aufstiegsrausch des Erzählers zeigt sich auch in einer gewissen Launigkeit und Sprunghaftigkeit. Mal detailliert, mal ausschweifend, aber immer ehrlich und brutal schreibt Louis über seine Scham, die Wut und die Schmerzen nach seinen Schönheitsoperationen. Es geht nicht nur um Identität, die »Klassengewalt« ist trotz seiner intersektionalen Herangehensweise omnipräsent, in jedem Gedanken, auf jeder Seite.

Sätze wie »Der Philosoph Gilles Deleuze hat irgendwo einmal gesagt … « finden sich zuhauf; der Erzähler bezieht sich auf viele Personen aus der politischen Ideengeschichte, vermutlich um sich mit ihnen in eine Reihe zu stellen und zu verorten. Eine Auseinandersetzung mit den Werken von Foucault, Arendt und Marx findet jedoch kaum statt. Zudem erscheinen eigentlich interessante Figuren wie seine Jugendfreundin Elena oder sein Pariser Freund Geoffroy etwas blass. Gerne hätte man noch mehr über sie oder die anderen Frauen erfahren, die für ihn so wichtig waren.


»Beim Schreiben merke ich, dass meine Geschichte vor allem die ­Geschichte einer langen Reihe von Frauen ist, die mich gerettet haben, Pascale Boulnois, Stéphanie Morel, Aude Detrez, Martine Coquet, Elena, Babeth, dass meine Geschichte die Geschichte ihrer Beharrlichkeit und Warmherzigkeit ist.« Das klingt ein bisschen nach Stoff für das nächste Buch. Vorerst gilt, dass »Anleitung ein anderer zu werden« sein bestes ist. Und sein elitärstes.

Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden. Aus dem Französischen von ­Sonja Finck. Aufbau-Verlag, Berlin 2022, 272 Seiten, 24 Euro