Der Prozess gegen einen Berliner Nazi und der Neukölln-Komplex

Nazi im Justizglück

Der Neuköllner Nazi Maurice P. steht vor Gericht, unter anderem wegen eines Messerangriffs aus mutmaßlich rassistischen Motiven. Dabei besteht der Verdacht, dass die Anklage herabgestuft wurde, weil P. als Zeuge im »Neukölln-Komplex« mit den Behörden kooperierte.

Die Liste der Straftaten, die Maurice P. vorgeworfen werden, zeichnet das Bild eines gewaltbereiten Rechtsextremen. Seit Mitte Oktober läuft am Amtsgericht Tiergarten ein Verfahren gegen den 29jährigen aus dem Berliner Stadtteil Britz im Bezirk Neukölln. Der Anklage zufolge soll er im September 2018 zusammen mit weiteren Rechtsextremisten bewaffnet mit Holzlatten und Stühlen in Neukölln Linke angegriffen haben, wobei mehrere Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Zudem soll er im vergangenen Jahr »aus Hass gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe« eine gefährliche Körperverletzung begangen und vor dem Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma den Hitlergruß gezeigt haben.

Dem Staatsschutz gilt Maurice P. gar als Führungsfigur in der Berliner Nazi-Szene. Er sei zeitweise in die »Schutz­zonen«-Kampagne der neofaschistischen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) eingebunden gewesen und sei auch wegen Drogendelikten mehrfach vorbestraft. Der Staatsschutz führt ihn als einen von etwa 30 rechtsextremen Gefährdern in Berlin.

Ihm und neun weiteren Personen wird außerdem vorgeworfen, dem deutschen Ableger der verbotenen neonazistischen Terrororganisation »Atomwaffen Division« anzugehören. Der erste Prozesstermin im April musste ausgesetzt werden, weil die Bundesstaatsanwaltschaft wegen der Ermittlungen zur »Atomwaffen Division« den Wohnsitz von P. durchsuchen ließ. Dort fanden die Ermittler rechtsextremes Propagandamaterial wie eine Hakenkreuzfahne und ein Rudolf-Hess-Plakat. Die spärlich eingerichtete Wohnung war mit rechtsextremer Symbolik übersät. In Spiegel und Fernseher waren Nazi-Symbole gekratzt.

Die Ermittlungen der Bundesstaatsanwaltschaft spielen in dem Berliner Prozess aber keine Rolle. Hier muss sich P. vor allem wegen des beinahe tödlichen Angriffs auf einen dunkelhäutigen Mann verantworten. Dass er im Juli des vergangenen Jahres vor einem Café in Neukölln ein Cuttermesser gegen einen Jamaikaner erhoben hat, räumte der Neonazi bereits ein. Die gewalttätige Auseinandersetzung sei aber von dem Opfer ausgegangen, sagte P. vor Gericht aus. Zeugen zufolge ging dem Angriff ein verbaler Schlagabtausch voraus. Dabei soll sich der Rechtsextremist rassistisch geäußert haben. Der Angeklagte behauptet, sich nicht mehr daran erinnern zu können, wie genau es zu der Schnittverletzung am Hals des Mannes kam. »Es war nicht meine Absicht, ihn genau dort zu verletzen«, teilte der Verteidiger und ehemalige Vorsitzende der verbotenen Wiking-Jugend, Wolfram Nahrath, im Namen seines Mandanten mit.

Bei dem Angriff war die Halsschlagader des Opfers nur um wenige Zentimeter verfehlt worden. Deshalb hatte die Staatsanwaltschaft die Tat in der Anklage als versuchtes Tötungsdelikt eingestuft. Das Gericht wies dies jedoch zurück und verhandelt lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung, außerdem wurde Maurice P. aus der Untersuchungshaft entlassen. »Mieser Justizdeal mit Berliner Brutalo-Nazi«, titelte daraufhin die Lokalausgabe der Bild-Zeitung. Der Verdacht: P. wurde frühzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen und nur wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt, weil er als Kronzeuge gegen die Rechtsextremisten Sebastian T. und Tilo P. aussagen soll. Sie sind die beiden Hauptverdächtigen des sogenannten Neukölln-Komplexes, einer rechtsextrem motivierten Serie von Brandanschlägen und Bedrohungen in dem Berliner Bezirk.

Maurice P. hatte sich in der Untersuchungshaft mit Tilo P. eine Zelle geteilt. Dort soll dieser über die Brandanschlagsserie gesprochen und gegenüber Maurice P. zugegeben haben, dass er dabei »Schmiere gestanden« habe. Dies habe Maurice P. dem Verfassungsschutz mitgeteilt, der die Informationen an die Generalstaatsanwaltschaft weiterleitete.

Der Vertreter der Generalstaatsanwältin und Chefermittler für Extremismus und Terrorismus, Dirk Feuerberg, weist diese Vorwürfe freilich von sich. »Die Vorstellung, einen Mordvorwurf im Tausch gegen einen Brandstiftungsnachweis an einem PKW fallen zu lassen, ist abwegig und entspricht nicht der Rechtswirklichkeit in unserem Rechtsstaat«, sagte er dem Berliner Tagesspiegel. Zudem habe die Staatsanwaltschaft nicht gewollt, dass P. aus der Untersuchungshaft entlassen wird. »Die Entscheidung des Landgerichts, eine Anklage gegen Maurice P. lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung zuzulassen und ihn aus der Haft zu entlassen, erging entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft«, so Feuerberg weiter. Das Gericht begründete die Herabstufung der Tat unter anderem mit der Tatsache, dass P. nach dem Angriff einen Autofahrer aufgefordert hatte, den Polizeinotruf zu wählen.

Nicht nur dieses juristische Gezerre hinterlässt bei Beobachtern einen faden Beigeschmack. Die antifaschistische Gruppe Neukölln Watch hatte schon vor einem Jahr gemutmaßt, dass die Sicherheitsbehörden die Rolle von Maurice P. bewusst überhöhen, um »dadurch positive Schlagzeilen zum leidigen Thema ›Neukölln-Komplex‹ zu produzieren«. Denn diesbezüglich stehen die Behörden weiterhin unter Druck. Weder der Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zur Neuköllner Anschlagsserie noch das Gerichtsverfahren gegen die beiden Hauptbeschuldigten Sebastian T. und Tilo P. konnte bisher die unzähligen Ermittlungsfehler und die verschleppte Aufklärung der Taten aufklären.

Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) teilte der Jungle World mit, sie könne sich »angesichts der vergleichsweise kurzen Zeit P.s in der rechtsextremen Szene Berlins und seiner darin wahrnehmbaren Aktivitäten nicht erklären«, in welcher Hinsicht und für wen der Neonazi eine »Führungsfigur« darstellen soll.

Auch die Einlassungen des 29jährigen vor Gericht lassen zumindest Zweifel daran aufkommen. »Klar bin ich ein sogenannter Rechter. In den Jahren 1933 bis 1945 wäre ich als arbeitsscheuer Asozialer sicher im KZ gelandet«, führte er aus und fügte hinzu, dass der tägliche Konsum von »Tilidin und Kokain« sowie »im Übermaß Alkohol« zu seinem Alltag gehörte. Tilidin ist ein Opioid.

Die MBR sieht auch keine Belege für eine Mitgliedschaft oder gar Führungsfunktion von P. im militanten Netzwerk von Combat 18, auch wenn der Berliner Neonazi in der Öffentlichkeit verschiedene Kleidungsstücke mit dem Code »C18« getragen hat. Die zivilgesellschaftliche Gruppe verweist darauf, dass bei den bundesweiten Verbotsrazzien gegen Combat 18 im Januar 2020 niemand in Berlin betroffen war. Sie hält »eine Herstellung der Bekleidung in Eigenregie zur Erhöhung der eigenen Szenestellung« für denkbar.