Vorboten des Zivilisationsbruchs

Das Buch beeindruckt durch seine schiere Materialfülle: Anhand von Archivmaterial, darunter lange vernachlässigte Zeugenaussagen, Gerichtsakten und offizielle Dokumente, beleuchtet der US-amerikanische Historiker Jeffrey Veidlinger in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch »Mitten im zivilisierten Europa. Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust« ein bisher kaum beachtetes Kapitel in der Geschichte der Judenverfolgung in Europa. Veidlinger, Professor für Geschichte und Judaistik an der Universität von Michigan, forscht über Neuere jüdische Geschichte, Russland und Osteuropa, Oral History sowie zum Holocaust. Der Titel seines neuen Buchs ist eine Anspielung auf ein Zitat des französischen Schriftstellers Anatole France, der die Großmächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Oktober 1919 dazu aufrief, die osteuropäischen Juden zu verteidigen: »Mitten im zivilisierten Europa, am Anbruch einer neuen Ära (…) ist die Existenz einer ganzen Volksgruppe bedroht.«

In der Zeit des endenden Ersten Weltkriegs und der Wirren der Oktoberrevolution sowie des sich daran anschließenden Bürgerkriegs in Russland ereigneten sich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine zahlreiche Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. Genaue Zahlen sind nicht gesichert, da die Dokumentation der einzelnen Ereignisse sehr unterschiedlich ausfiel. Von Massakern mit einigen wenigen Toten in kleineren Dörfern bis hin zu Pogromen mit mehreren Hundert und gar über tausend Opfern ist die Rede, an denen sich Bauern, Städter und Soldaten beteiligen.

Die deutschen Besatzer begrüßten die antijüdischen Pogrome in der Ukraine, versuchten sie zu entfesseln und zu verstärken. Einen detailliert entworfenen Plan zur Ausrottung einer ganzen Bevölkerungs­gruppe entwickelt zu haben, bleibt jedoch den Deutschen vorbehalten.