Der neue Vorsitzende des Rassemblement National gilt als Le Pens Protegé

Der Junge aus der Banlieue

Die französische Partei Rassemblement national hat einen neuen Vorsitzenden, den 27jährigen Jordan Bardella. Er gilt als rechter Hardliner.

Der Skandal kam zum denkbar unpassendsten Zeitpunkt für den Rassemblement national (RN, Nationale Sammlung). Eigentlich scheut die rechtsextreme Partei selten vor Polemik zurück und riskiert auch Skandale – Hauptsache, man erregt Aufmerksamkeit. Doch diesmal war das Timing schlecht. Am Donnerstag vergangener Woche, zwei Tage bevor der RN den Namen seines neuen Parteivorsitzenden verkünden wollte, kam es zu einem Eklat in der französischen Nationalversammlung. Der rechtsextreme Abgeordnete Grégoire de Fournas, ein 37jähriger Weinbauer aus dem Raum Bordeaux, störte die Rede eines Parlamentarierkollegen von der linkspopulistischen Partei La France insoumise (Unbeugsames Frankreich), des 31jährigen Carlos Martens Bilongo, eines Franzosen kongolesischer Abstammung und früheren Lehrers, mit einem rassistischen Zwischenruf. Bilongo hatte über die Schiffe gesprochen, die zur Seenotrettung von Migranten auf dem Mittelmeer unterwegs sind. Das Protokoll verzeichnet einen Zwischenruf, von dem aufgrund sprachlichen Gleichklangs zwischen den Pronomen »il« (im Singular) und »ils« (im Plural) nicht abschließend geklärt ist, ob er nun »Soll er doch nach Afrika zurückgehen« lautete oder aber »Sollen sie doch nach Afrika zurückgehen«.

Am Tag darauf entschloss sich das Büro der Nationalversammlung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der des RN, de Fournas zu rügen und zu sanktionieren. Ihm wird der Zutritt zur Nationalversammlung für 15 Sitzungstage verboten und die Bezüge werden ihm für die Dauer von zwei Monaten um die Hälfte gekürzt. Diese Disziplinarstrafe – die höchste von vier vorgesehenen Stufen – war seit Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958 erst einmal zuvor verhängt worden.

Der Zwischenfall kam für den RN, der de Fournas zumindest nach außen weitgehend geschlossen verteidigte, zur Unzeit. Denn er überschattete den Parteitag am Samstag im traditionsreichen Pariser Versammlungssaal La Mutualité, auf dem ein neuer Vorsitzender zu wählen war.

Trotz des Skandals in der Nationalversammlung gönnte sich dieser, der erst 27jährige Jordan Bardella, an jenem Tag einen Triumph im Glanz der Scheinwerfer. Die am Vormittag verkündeten Abstimmungsergebnisse zeigten den jungen Europaparlamentarier als klaren Sieger. Er setzte sich mit 84,84 Prozent der Stimmen klar gegen seinen Widersacher Louis Aliot durch, den 53jährigen Bürgermeister von Perpignan. Marine Le Pen hat den Parteivorsitz aufgegeben, um sich auf den Fraktionsvorsitz in der Nationalversammlung zu konzentrieren. Bardella, der italienische Wurzeln hat und in ­einer Banlieue aufgewachsen ist, gilt als ihr Favorit und Protegé.

Die Wahl war auch eine Richtungsentscheidung. Denn Aliot befleißigt sich eher verbaler Mäßigung, wie viele der 2014 sowie 2020 gewählten Bürgermeister des RN. Dabei geht es diesen vor allem um mögliche Bündnisse mit bürgerlichen Kräften, die ihnen in der Lokalpolitik unabdingbar scheinen. Fournas’ rassistische Attacke im Nationalparlament kritisierte zum Beispiel der Bürgermeister von Fréjus an der Côte d’Azur, David Rachline (RN), der sagte, er bedauere den »Mangel an Menschlichkeit« in der Aussage seines Parteikollegen.

Freilich ist auch Aliot nicht wirklich moderat. Einer seiner umstrittensten Pläne ist es, eine wichtige Straße in seiner südfranzösischen Stadt nach Pierre Sergent zu benennen. Dieser hatte zwar in jungen Jahren der Résistance angehört, wurde aber vor allem als einer der Anführer der rechten Terrororganisation OAS (Organisation geheime Armee) bekannt – einer Siedlerbewegung im kolonisierten Algerien, die von rechten Offizieren unterstützt wurde, in der Schlussphase des Algerienkriegs 1961/62 rund 2 700 Menschen er­mordete und auch Präsident Charles de Gaulle zu töten versuchte. In den frühen neunziger Jahren war der in Perpignan ansässige Sergent zeitweilig Parlamentsabgeordneter des Front national (FN), aus dem 2018 der RN hervorging.

Allerdings folgt Aliot einer Ansicht, die er in einem Interview 2014 in die Worte fasste: »Der einzige Sperrriegel«, der noch eine Machtbeteiligung seiner Partei auch auf nationaler Ebene verhindere, sei »der Antisemitismus« – gemeint war der Vorwurf, dieser präge den FN. Dies hatte Aliot, der 1988 als Bewunderer des Parteigründers Jean-Marie Le Pen zum FN stieß, zwar lange Jahre nicht gestört. Doch heute scheinen ihm wie auch anderen in der Parteiführung Antisemitismus und allzu ungehemmte Verschwörungstheorien strategisch kontraproduktiv.

Nach einem innerparteilichen Wahlkampf, der inhalts- und konfliktarm anlief, entschied sich Aliot in der Schlussphase ab Anfang Oktober für eine stärkere Profilierung. Er versuchte offenbar, sich ganz explizit als der moderatere Kandidat zu präsentieren. So empfing er am 13. Oktober in seinem Rathaus in Perpignan die Eheleute Serge und Beate Klarsfeld, um ihnen eine Auszeichnung der Stadt zu verleihen. Sie sind als Nazi-Jäger bekannt, Serge Klarsfeld ist Holocaust-Überlebender (siehe Dschungel-Seiten 8/9); in jüdischen Kreisen sorgte dies für heftige Debatten, ob so die extreme Rechte salonfähig gemacht werde. Ferner forderte Aliot ein »Bad Godesberg für die nationale Rechte« – in Anlehnung an jenen Parteitag der deutschen SPD im Jahr 1959, auf dem die Partei ihre Transformation von einer sozialistischen Arbeiterpartei zu einer moderateren Reformpartei besiegelte.

Die Parteimitglieder honorierten das nicht und wählten stattdessen Bardella zum Vorsitzenden. Er bildete nach seiner Wahl den zwölfköpfigen Parteivorstand um. Dabei flogen zwei bisherige Mitglieder hinaus: der Bürgermeister von Hénin-Beaumont, Steeve Briois, sowie dessen Berater und Lebenspartner Bruno Bilde. Darauf reagierte Briois, indem er vor die Fernsehkameras trat und sagte, mit seiner Entlassung wolle die neue Parteiführung sich von der Orientierung auf die »soziale Frage« verabschieden und sich nationaler Identitätspolitik in Reinform zuwenden – er warnte vor einer Rechtsbe­wegung und einem Rückfall in das, was die Partei »vor 20 Jahren mal war.«

Die Attacke bezog sich wohl Gilles Pennelle, den Bardella in den engsten Führungszirkel hineinholte. Der 59jährige frühere Geschichtslehrer soll 2002 an Treffen unter anderem mit der ­offen neuheidnischen und antisemitischen Gruppierung Terre et peuple (»Volk und Erde«) des früheren Lyoner Geschichtsprofessors Pierre Vial teil­genommen haben. Dort hatte Pennelle nach der Niederlage von Jean-Marie Le Pen gegen Jacques Chirac in der Präsidentschaftswahl 2002 die Abkehr vom »gescheiterten Weg der Machtübernahme durch Wahlen« propagiert. Er kehrte 2011 zum FN zurück, gemäßigt hat er sich jedoch kaum.

Allem Anschein nach arbeitet Marine Le Pen derzeit auf eine neue innerparteiliche Arbeitsteilung hin. Ihr bleibt es überlassen, sich sozialen und ökonomischen Themen zu widmen. Bardella hingegen soll wohl die Parteiideologie in ihrer klassischen Form repräsentieren. Ob das gutgeht und Le Pen 2027 als Präsidentin in den Élysée-Palast einziehen wird, was in bürgerlichen Medien immer häufiger als realistische Möglichkeit diskutiert wird, bleibt offen.