Das neue sogenannte Triage-Gesetz stößt auf Kritik

Wer kriegt das Bett?

Das neue Triage-Gesetz soll regeln, wer im Notfall zuerst behandelt wird. Diskriminierung nach Lebensalter, Behinderung oder Vorerkrankung ist offiziell verboten, doch viele Kritikerinnen und Kritiker halten das für unzureichend.

Sogenannte Triage-Fachkräfte gibt es in deutschen Krankenhäusern schon lange. Sie entscheiden in der Notaufnahme, wer zuerst Hilfe benötigt und wer zur Not noch ein wenig warten muss. Eine solche Triage, also eine Priorisierung nach Schwere der Erkrankung oder Verletzung, geht jedoch von der Annahme aus, dass am Ende alle Menschen behandelt werden.

Die gesetzlichen Regelungen, die nun im Deutschen Bundestag im Rahmen eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen wurden, haben damit fast nur das Wort gemeinsam. Denn das sogenannte Triage-Gesetz soll Fälle ­regeln, in denen nicht mehr alle Menschen behandelt werden können – ­Fälle, in denen es nicht mehr »ausreichend vorhandene überlebens­wichtige intensiv­medizinische Behandlungs­kapazitäten« gibt. Es geht also um Entscheidungen über Leben und Tod.

»Wenn Menschen nach Überlebenswahrscheinlichkeiten sortiertwerden, stellt das einen der Grundzüge unserer Verfassung in Frage.« Nancy Poser, Juristin

Die Bilder aus dem norditalienischen Bergamo sind vielen in Erinnerung geblieben. Lastwagen transportierten die Leichen von an Covid-19 Gestorbenen durch die Stadt, Krankenhäuser hatten keine Beatmungsplätze mehr und Ärzte mussten entscheiden, wer zuerst Hilfe bekommen sollte. Auch in Deutschland drohte während der Hochphase der Covid-19-Pandemie immer wieder eine solche Situation, da Intensivbetten knapp wurden. Doch eine gesetzliche Regelung für die Triage in solch einem Katastrophenfall gab es nicht. Die notfall- und intensivärztlichen Fachgesellschaften (DIVI) hatten lediglich zu ­Beginn der Pandemie im April 2020 Leit­linien entwickelt, die für eine Triage ­Kriterien wie Begleiterkrankungen, Gebrechlichkeit und den allgemeinen ­Gesundheitszustand vorsahen.

Insgesamt neun behinderte und vorerkrankte Menschen hatten gegen diese fehlende Reglung eine Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Sie äußerten die Sorge, man werde Menschen mit Behinderung im Falle einer Überlastung des Gesundheitssystems zuerst aufgeben – auch wegen der Leitlinie der DIVI. Sie forderten, dass der Gesetzgeber klare Entscheidungskriterien festlegen solle. Das Bundesverfassungsgericht gab den Klägern im Dezember 2021 recht: Der ­Bereich müsse gesetzlich klar geregelt und Behinderte müssten vor Diskriminierung geschützt werden.

Am Donnerstag vergangener Woche hat der Deutsche Bundestag nun ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Die Parlamentarier hatten zuvor von der Gruppe Ability Watch per Post Traueranzeigen erhalten. Das beiliegende Schreiben warnte sie vor einer Aussortierung der »Schwächsten der Gesellschaft«. 45 Minuten waren für die Debatte im Bundestag vorgesehen. Doch so flott und reibungslos sollte es nicht gehen. Von den zur ersten Lesung ­zunächst anwesenden rund 70 Abgeordneten stimmten einige aus den Reihen der Koalition gegen den Entwurf, so dass eine namentliche Abstimmung erfolgen musste. Schließlich wurden 656 Abgeordnete versammelt und stimmten mehrheitlich für den Gesetzentwurf. Allerdings blieben sieben Abgeordnete aus den Koalitionsparteien blieben bei ihrem Nein.

Das beschlossene Gesetz besagt, dass im Grundsatz niemand aufgrund »einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters« bei der Behandlung benachteiligt werden darf. Dies »darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebens­wahr­schein­lichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten« geschehen. Komorbiditäten, also Begleiterkrankungen, dürfen nur berücksichtigt werden, wenn sie »die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern«.

Doch Kritikerinnen und Kritikern zufolge ermöglichen die letzten beiden Punkte die Diskriminierung, die das Gesetz offiziell verbieten soll. Die Leiterin der Taskforce Gesundheit bei der Caritas, Maria Andrino, warnte im Gespräch mit dem kirchlichen Sender Domradio vor der Berücksichtigung von Begleiterkrankungen. Menschen mit Behinderung hätten häufiger Nebenerkrankungen, so dass »die Wahrscheinlichkeit des Überlebens« geringer eingeschätzt werde.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte und die Monitoring-Stelle zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hatten schon zuvor in ­einem offenen Brief den Gesetzesentwurf kritisiert. Er bedeute »im End­effekt (…) nichts anderes als die rechtlich vorgeschriebene bewusste Rettung der momentan jeweils Fittesten«. Theresia Degener, Professorin für Recht und Disability Studies, geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Regelung als »erschütternd geschichtsvergessen und einseitig medizinisch-ökonomisch«.

Die Juristin und Behindertenrechtlerin Nancy Poser, die schon an der Verfassungsklage gegen die fehlende Triage-Regelung beteiligt war, schließt sich dieser Kritik an. Der Jungle World sagte sie: »Wenn Menschen nach Überlebenswahrscheinlichkeiten sortiert werden, stellt das einen der Grundzüge unserer Verfassung in Frage, die sogenannte Lebenswertindifferenz.« Dieses Prinzip besagt, dass kein Menschen­leben mehr wert ist als ein anderes und dass diese nicht gegeneinander auf­gewogen werden dürfen. Poser fordert stattdessen eine Randomisierung, also ein Zufallsverfahren, bei zu knappen Behandlungsplätzen. »Nur dieses Zufallsprinzip ist fair und entspricht der Gleichbehandlung«, unterstreicht Poser. Darüber hinaus kritisiert sie, dass der Gesetzentwurf lediglich im Bundesgesundheitsministerium ausgearbeitet worden sei: »Bei der ethischen Tragweite hätte es eine breite gesellschaftliche Debatte geben müssen.«

Ärztevertreter kritisierten die Ver­abschiedung des Gesetzes aus anderen Gründen. Ihnen fehlt die Rechts­sicherheit ärztlichen Handelns. Die Entscheidung müsse wie bisher in jedem einzelnen Fall unter medizinischen Gesichtspunkten und nicht vor dem Hintergrund »einer drohenden Strafverfolgung ärztlichen Handelns« getroffen werden, betont der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Hans-Albert Gehle. Die Bundesärztekammer bemängelte damit den Ausschluss der Ex-Post-Triage – also eine bereits begonnene Behandlung eines Patienten einzustellen, weil ein neuer Patient höhere Überlebenschancen hätte. Die Ex-Post-Triage würde es Ärzten ermöglichen, bereits belegte Intensivbetten oder Beatmungsmaschinen für Patienten mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit freizumachen. Das Verbot der Ex-Post-Triage führe zu Unsicherheiten und könne sogar zu vermeidbaren Todesfällen führen, so Gehle: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« könne keine Grundlage für die intensivmedizinische Behandlung sein.