Der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke vor 42 Jahren

Der verdrängte Judenmord

Der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke vor 42 Jahren spielte für die Wahrnehmung rechter Gewalt in Deutschland lange keine Rolle. Nun erinnert erstmals ein leitender Mitarbeiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung mit einem Buch an das Verbrechen.

Am 19. Dezember 1980 ermordete Uwe Behrendt den ehemaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Shlomo Lewin, und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke in deren Wohnung in Erlangen. Es ist der erste bekannte antisemitische Mord eines Rechtsextremen in der Bundes­republik Deutschland. Das ganze Jahr 1980 war geprägt von rechtem Terror. 40 Jahre lang spielte der Doppelmord in Erlangen für die Wahrnehmung rechter Gewalt allerdings kaum eine Rolle. Die Journalisten Ulrich Chaussy und Ronen Steinke mussten vor zwei Jahren mit ihren Büchern erst wieder an diese Tat erinnern. Bis dahin hatte die Mehrheits­gesellschaft sie »vergessen«.

Uwe Behrendt war die rechte Hand von Karl-Heinz Hoffmann, dem Kopf der 1973 gegründeten und nach ihm benannten »Wehrsportgruppe«. Deren Mitglieder bereiteten sich bei ihren ­paramilitärischen Übungen auf eine Machtübernahme vor. Im September 1980 hatte ein anderes Mitglied der »Wehrsportgruppe«, Gundolf Köhler, eine Bombe auf dem Münchner Ok­toberfest gelegt. Bei der Explosion starben außer ihm zwölf Menschen, über 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Es war der bis heute schwerste rechtsex­treme Anschlag in der Bundesrepublik.

Seit drei Jahren erinnert die Initiative Kritisches Gedenken Erlangen an den antisemitischen Doppel­mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke.

Der bayerische Journalist Ulrich Chaussy, der seit den achtziger Jahren zu dem Oktoberfest-Attentat recherchiert, stellte vor zwei Jahren in seinem Buch »Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen« nicht nur eine personelle, sondern auch eine ideologische Verbindung zwischen den beiden Anschlägen her. Die »Wehrsportgruppe« verkaufte seit den sieb­ziger Jahren Waffen an die Palestine Liberation Organization (PLO). Weil das Oktoberfest-Attentat die Geschäftspartner im Nahen Osten verstörte, habe Hoffmann ihnen die antisemitische Lüge aufgetischt, das »Blutbad in München« sei eine »Aktion des israelischen Geheimdienstes« gewesen, um seine Nazi-Gruppe zu diskreditieren und die Lieferungen von Militärgerät an die PLO zu unterbinden.

Ronen Steinke, der in Erlangen aufgewachsen ist, schilderte in seinem Buch »Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage« die lange Geschichte antisemitischer Gewalt aus der Sicht von Jüdinnen und Juden. Paul Spiegel, von 2000 bis zu seinem Tod 2006 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte in einem 2012 zuerst ausgestrahlten Dokumentarfilm, 1980 habe in den jüdischen Gemeinden »blankes Entsetzen« geherrscht. Zum einen über die rechtsextreme Gewalt, zum anderen darüber, dass die Bedrohung »von der breiten Gesellschaft nicht so wahrgenommen« ­worden sei.

Nun legt Uffa Jensen, stellvertretender Direktor des Zentrums für Antise­mitismusforschung der Technischen Universität Berlin, eine weitere Studie zu dem Doppelmord in Erlangen vor: »Ein antisemitischer Doppelmord. Die vergessene Geschichte des Rechtster­rorismus in der Bundesrepublik«, erschienen bei Suhrkamp. Was die Tat, ihr Motiv und eventuelle Mittäter angeht, bietet sie wenig Neues: Jensen gibt dasselbe Mordmotiv an wie Chaussy, und auch er hält eine Mittäterschaft Hoffmanns für möglich, kann eine solche allerdings ebenfalls nicht belegen.

Dass so wenig über den Doppelmord in Erlangen gewiss ist, liegt nicht zuletzt an der miserablen Arbeit der Ermittlungsbehörden. Obwohl der Mörder, Uwe Behrendt, am Tatort eine Sonnenbrille liegen ließ, von der bis dahin nur 41 Stück verkauft worden waren, und sich die Herstellungsfirma in der Nachbarschaft des »Wehr­sport­grup­pen«-Sitzes in Nürnberg befand, ermittelte das bayerische Landeskriminalamt (LKA) in völlig ­andere Richtungen. Gerüchte über das Opfer prägten die Polizeiarbeit. Es sind erschreckend ähnliche Muster erkennbar wie bei der Mordserie der ­extrem rechten Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). ­Anstatt gegen rechts zu ermitteln, verdächtigte das LKA das Opfer und die Hinterbliebenen.

Die lokalen Medien taten ein Übriges: Über Lewin, der in Erlangen eine neue Jüdische Gemeinde aufbauen wollte, kolportierten sie das Gerücht, er sei für den israelischen Geheimdienst tätig gewesen. Mit solcher Berichterstattung habe die Presse Lewins »geistige Ermordung« betrieben, sagte sein Cousin Arie Frankenthal bei der Trauer­feier.

Mit der ersten wissenschaftlichen Monographie zu dem Erlanger Doppelmord will Jensen alle Fragen abschließend klären – was kaum möglich ist. Er ordnet die Tat in die lange Geschichte rechter Gewalt ein; erwägt eine Tatbeteiligung der Fatah, die eine Unteror­­­ga­nisation der PLO ist und der »Wehrsportgruppe Hoffmann« im Libanon ein zweites Zuhause gegeben hatte (»ausschließen kann ich eine Fatah-Beteiligung nicht«); diskutiert die gängigen Definitionen des Begriffs Rechtsextremismus und wirft die Frage auf, ob der Mord an Lewin und Poeschke ein antisemitisches Verbrechen gewesen sei. Das sollte eigentlich offensichtlich sein, aber das Nürnberger Gericht kam Mitte der achtziger Jahre im Verfahren gegen Hoffmann, in dem dieser von der Beihilfe zum Mord freigesprochen wurde, zu einem ganz an­deren Schluss: Wenn ein Nazi einen Repräsentanten des Judentums ermordet, sei das nicht »als ein Terrorakt zur Verfolgung politischer Ziele« zu be­werten.

Das vorletzte Kapitel widmet sich dem »Vergessen«. Der treffendere Ausdruck wäre Verdrängung, und von ihr kann nur in Hinblick auf die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft die Rede sein. Beim Thema »Vergessen« fällt eine Lücke in Jensens Studie besonders auf. Denn das Zentrum für Antisemitismusforschung wurde zwei Jahre nach dem Mord in Erlangen gegründet, und es stellt sich die Frage, warum seine Mitarbeiter:innen nicht seit Jahrzehnten der gesellschaftlichen Verdrängung antisemitischer Gewalt entgegenwirken.

Der Doppelmord in Erlangen ist nicht das einzige antisemitische Verbrechen, das »vergessen« wurde. An den Brandanschlag auf das Wohnheim der Israelitischen Kultusgemeinde München, bei dem im Februar 1970 sieben Davongekommene der Shoah ums Leben kamen, musste vor neun Jahren auch erst »erinnert« werden. Dieses Verbrechen ist bis heute nicht aufgeklärt. Verdächtigt wurden Mitglieder einer linksradikalen Gruppierung, aber es gibt keine gesicherten Erkenntnisse. Denkbar ist auch, dass Nazis den Brand gelegt haben.

Dabei ist nicht nur die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden vor 40 oder 50 Jahren aus dem Blick geraten. Jensens Perspektive ist vom Bekanntwerden des NSU geprägt. Nachdem sich dieser 2011 selbst enttarnte, wurde offenbar, dass die deutsche Gesellschaft einen großen blinden Fleck hat. Dabei war schon 2003 in München eine ganz ähnliche rechte Terrorzelle aufgeflogen (Jungle World 38/2003). Die vierköp­fige Gruppe um Martin Wiese hatte sich Sprengstoff besorgt, um Anschläge auf jüdische und muslimische Einrichtungen zu verüben. Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) sprach von einer »völlig neuen ­Dimension« rechter Gewalt, denn in diesem Fall begingen Nazis keinen spontanen Mord, sondern planten über Monate im Geheimen Attentate. Ein Spiegel-Artikel nannte damals übrigens die Namen von drei Nazis, denen das LKA Thüringen ähnliche Anschläge zutraute: Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe.

Durch den Anschlag in Halle an der Saale, das Massaker in Hanau und den Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke sind es Rechtsextreme selbst, die dafür sorgen, dass die Bedrohung durch sie nicht mehr ignoriert werden kann.

Seit drei Jahren erinnert die Initiative Kritisches Gedenken Erlangen an den Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke. Sie trägt das Gedenken, das bis dahin auf antifaschistische Gruppen in und um Erlangen begrenzt blieb, in eine größere Öffentlichkeit und verknüpft die – auch selbstkritische – Erinnerung an den Doppelmord in Erlangen mit dem Gedenken an ­andere rechte Gewalttaten. Auch in diesem Jahr plant die Initiative Kritisches Gedenken eine Veranstaltung am Jahrestag des antisemitischen ­Doppelmords, dem 19. Dezember.

Das Gedenken steht auch in der Tradition von Shlomo Lewin, der 1977 gegen ein Treffen von Holocaustleugnern protestierte. Die eine Gefahr seien die vielen Nazis, die es noch gebe, sagte er. Die andere Gefahr sei, dass so viele »von der Vergangenheit nichts wissen« wollten. Das gilt heutzutage nicht nur für die Zeit vor 1945, sondern auch für die jüngere Vergangenheit.