Bei der sächsischen Firma Teig­waren Riesa gab es einen erfolgreichen Streik

Endlich mal ein Sieg

In Ostdeutschland sind die Gewerkschaften schwächer und die Löhne niedriger als im Westen. Doch derzeit stehen die Chancen für Streiks gut und viele Belegschaften werden offenbar kampfbereiter. Das jüngste Beispiel ist der erfolgreiche Streik beim sächsischen Nudel­hersteller Riesa.

»Wir sind sehr zufrieden, das Ergebnis ist fast das, was wir gefordert hatten.« Anke Kühne klingt geradezu euphorisch, als sie im Gespräch mit der Jungle World den neuen Tarifvertrag beim sächsischen Nudelhersteller Riesa kommentiert. Seit 22 Jahren arbeitet sie bei dem Unternehmen, seit diesem Jahr ist sie Betriebsratsvorsitzende. Nach langem Arbeitskampf war es Mitte vergangener Woche zur Einigung gekommen. Der Stundenlohn soll bis Dezember 2023 in drei Schritten um insgesamt zwei Euro erhöht werden, das wären am Ende 346 Euro mehr pro Monat. Zudem erhalten die Beschäftigten bis ins nächste Jahr noch eine Inflationszulage von 50 Euro monatlich.

Es ist wohl nicht nur die deutliche Lohnerhöhung, die für Kühnes gute Stimmung verantwortlich ist, sondern auch die Art und Weise ihres Zustandekommens. Fast sieben Wochen hatten die Arbeiter:innen der Nudelfabrik gestreikt. Lange sah es nicht so aus, als ob die Unternehmensleitung ihren Forderungen entgegenkommen würde. Erst im Rahmen einer Moderation durch den ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) und den ehemaligen Präsident des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg, Gerhard Binkert, wurde Dienstag vergangener Woche jener Vorschlag erarbeitet, dem die Streikenden einen Tag später zustimmten.

Langandauernde Arbeitskämpfe, die schließlich doch erfolgreich enden: Das ist für ostdeutsche Beschäftigte eine neue Erfahrung.

Langandauernde Arbeitskämpfe, die schließlich doch erfolgreich enden: Das ist für ostdeutsche Beschäftigte eine neue Erfahrung. Zu viele Kämpfe gegen die Schließung von Betrieben oder für eine Anpassung von Arbeitszeiten und Löhnen an das westdeutsche Niveau waren in den vergangenen 30 Jahren verloren gegangen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist in Ostdeutschland geringer als im Westen, nur eine Minderheit der Beschäftigten wird nach einem Tarifvertrag bezahlt.

Doch derzeit kommt es immer wieder zu erfolgreichen Tarifabschlüssen, zum Beispiel in der Gastronomie und der Metallbranche. Gründe dafür sind nicht nur der Arbeitskräftemangel und die steigenden Verbraucherpreise, sondern offenbar auch die Anhebung des Mindestlohns. Seit dem 1. Oktober beträgt dieser zwölf Euro pro Stunde. Etwa 40 Prozent der Beschäftigten von Riesa verdienten bisher nur wenig mehr, nämlich 12,51 Euro pro Stunde. »Dadurch wurde den Leuten nochmal klarer: Ich arbeite mich kaputt für die Altersarmut«, erläutert Olaf Klenke, Gewerkschaftssekretär beim Landesbezirk Ost der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), der Jungle World.

Ein Drittel der Werktätigen in Ostdeutschland sind Geringverdiener, stellte kürzlich das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung fest; im Westen sind es weniger als 17 Prozent. Dieses Lohngefälle zwischen West und Ost werde immer weniger akzeptiert, so Klenke. Zudem hätten sich die Bedingungen für Arbeitskämpfe verbessert. Die Arbeitslosigkeit sei niedrig und jüngere Beschäftigte seien nicht mehr von der Krisenerfahrung der neunziger Jahre geprägt. Damals war die Angst vor ­Arbeitslosigkeit groß, niedrige Löhne wurden deshalb meist hingenommen. »In Betrieben, wo es einen Kern von aktiven Leuten gibt, die was bewegen wollen, ist alles möglich heutzutage«, so Klenke.

Zumindest bei Riesa hat es funktioniert. Die Vorgeschichte des Streiks ­beginnt 2018, als dort erstmals ein Betriebsrat gewählt wurde. Schon dabei spielten Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland eine wichtige Rolle. Die Teigwaren Riesa GmbH gehört als Tochterfirma zum baden-württembergischen Unternehmen Alb-Gold. Die Mitarbeiter:innen in Baden-Württemberg verdienen monatlich mehrere Hundert Euro mehr als die in Sachsen und erhalten auch höhere Zuschläge für Nachtarbeit. In der Gründung des Betriebsrates schlug sich der Unwille der Beschäftigten, dieses Gefälle weiter hinzunehmen, erstmals deutlich nieder. »Schon nach der Betriebsratsgründung gab es Konflikte«, erinnert sich Klenke, »und 2021 gab es auch schon einen Streik. Die Beschäftigten wussten, was eine lange Auseinandersetzung bedeutet.«

Die Erfahrungen der früheren Auseinandersetzungen waren auch nach Ansicht von Kühne wichtig für den ­Zusammenhalt der etwas über 100 Beschäftigten, die normalerweise in zwei Hallen und im Dreischichtsystem arbeiten: »In der ersten Streikwoche haben wir uns richtig gefreut, uns alle wiederzusehen, und dann haben wir viel zusammen gemacht und geredet.« Auch Klenke beschreibt, sehr wichtig für den Erfolg der Arbeiter:innen sei die Erfahrung gewesen: »Wir halten ­zusammen, wir bekommen Probleme gemeinsam gelöst.«

Ein Problem, das die Streikenden gemeinsam lösen mussten, waren die Lohnausfälle der Beschäftigten während der Arbeitsniederlegung. Zwar zahlte die NGG Streikgeld, doch lag dieses wie stets unterhalb des Lohnniveaus, das ohnehin zu niedrig war. Um dennoch während eines langen Ausstands finanzielle Notlagen zu vermeiden, wurde ein Solidaritätsfonds eingerichtet, der sich schnell füllte. »Für den Soli-Fonds haben so viele Leute gespendet, dass wir ruhiger an die Sache rangehen konnten«, berichtet Kühne, die in dieser Unterstützung auch den Ausdruck einer allgemeinen Stimmung erkennt: »Wir haben immer wieder von Beschäftigten aus anderen Firmen gehört, dass sie auf uns schauen, dass wir die Vorreiter sind und sie das genauso machen wollen.«

Dass dem Streik in Riesa in den vergangenen Wochen eine gewisse Vorreiterrolle im Kampf gegen das anhaltend niedrige Lohnniveau in Ostdeutschland zukam, liegt nicht nur an der regional großen Bekanntheit der Marke – in der DDR war das Unternehmen der größte Nudelproduzent. Tatsächlich haben die Beschäftigten ihren Arbeitskampf nicht nur in Riesa geführt, sondern zudem versucht, durch politische Aktionen auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. So trafen sie sich unter anderem mit Politiker:innen unterschiedlicher Parteien, protestierten am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen die »Niedriglohn-Mauer« zwischen Ost und West und nahmen an einer Demonstration des linken Bündnisses »Genug ist genug« in Leipzig teil. »Die Unterstützung, die wir erfahren haben, die Gespräche, die wir geführt haben – das war eine ereignisreiche, schöne Zeit«, resümiert Kühne ihre Erfahrungen. Wenn es nach der NGG geht, soll Riesa kein Einzelfall bleiben, sagt Klenke: »Wir hoffen, dass das Schule macht.«