Noah Baumbach verfilmt Don De Lillos Kultbuch „Weißes Rauschen“

Konsum als Bollwerk gegen den Tod

Ein Hitler-Forscher, der unter Halluzinationen leidet, eine Mutter, die sich für Psychopharmaka prostituiert: Noah Baumbach verfilmt Don DeLillos Roman über eine US-amerikanische Kleinfamilie in Todesangst. »Weißes Rauschen« überzeugt vor allem mit seiner besonderen Ästhetik.

Mit einer Aneinanderreihung der eindrucksvollsten Unfallszenen der neueren Filmgeschichte eröffnet Noah Baumbach seine Don-DeLillo-Adaption »Weißes Rauschen«. Die Szenen werden während einer Vor­lesung vor Studierenden gezeigt und erläutert. Auf der Ästhetik der Crash-Szenen fußt Baumbachs Katastrophen­szenario, das alle gezeigten Bilder in den Schatten stellen will. Dem minutenlang zelebrierten Zusammenstoß eines mit Explosivstoff beladenen Lastwagens mit einem endlos langen Güterzug voller giftiger Chemikalien folgt eine gewaltige Detonation. Eine Feuerwalze fegt über die Landschaft hinweg und lässt eine riesige schwarze Wolke zurück. Die Medien sprechen von einem »luftübertragenen toxischen Vorfall«.

Der Film spielt in einer US-amerikanischen Kleinstadt in den konsumistischen achtziger Jahren. Der Protagonist ist Jack Gladney, ein Professor am provinziellen College on the Hill. Als Begründer der Hitler-Forschung hat er sich einen Namen gemacht. Im Kollegenkreis und bei seinen Studierenden wird er wie ein Star verehrt. Mit Adam Driver ist die Rolle des gefeierten Profs und vierfachen Patchwork-Familienvaters vielleicht etwas zu jung besetzt. Dafür ist Drivers unnachahmliches Minenspiel, das zwischen völliger Verpeiltheit und genialischer Suggestionskraft innerhalb von Sekundenbruchteilen umzuschalten vermag, genauso beeindruckend wie sein für die Rolle angefutterter Bauch. Gemeinsam mit seinem Freund Professor Murray Siskind (Don Cheadle), einem Popkulturforscher und Elvis-Presley-Experten, philosophiert er gerne über Verdrängung, Leben und Tod, während sie sich durch denn riesigen Supermarkt des Ortes schieben. Inmitten der gigantischen Warenansammlung wähnen sie sich vor den Unwägbarkeiten der kreatürlichen Existenz geschützt. Auch Jacks Kinder und seine Frau Babette (Greta Gerwig) streifen durchs Konsum­paradies. Hier trifft sich die Familie, so dass der Konsum den Übergang vom Öffentlichen ins Private markiert.

Eine psychoaktive Substanz namens Dylar soll Todes­angst kurieren. Das Mittel lässt nicht nur den Tod bedeutungslos werden, sondern auch die Realität.

Zu Hause muss sich der weltweit gefeierte Hitler-Forscher den Herausforderungen von Beziehungsarbeit und Pubertätschaos stellen. Tochter Debbie (Raffey Cassidy) spioniert der Mutter hinterher und versucht, Jack zu überzeugen, dass Babette auf dem Weg in die Drogensucht ist. Immer wieder nimmt sie ein geheimnisvolles Medikament ein, streitet das aber ab, wenn Jack sie danach fragt. Wie im College grundiert auch im geräumigen Haus der Familie unaufhörliches Gerede die Tage, die alles in allem angenehm bürgerlich sorgenfrei verlaufen, wäre da nicht die Paranoia angesichts des Wissens um die Unausweichlichkeit des Todes. Über die Angst hilft Jack und Babette nicht einmal ihre übergroße und mit jeder Äußerung unter Beweis gestellte Liebe hinweg.

Durch den Chemieunfall in der Nähe ihrer Kleinstadt bricht die sonst unterschwellige Angst mit voller Wucht in den Alltag der Familie ein. Vor den Kindern leugnet Jack anfänglich die Gefahr, doch bald hilft das nicht mehr: Wie ihre Nachbarn fliehen auch die Gladneys in wilder Panik aus dem Haus. Wichtig scheint dabei, beim hektischen Zurücksetzen mit dem Kombi aus der Einfahrt die Mülltonne umzufahren, damit die gesamte Straße zuletzt mit umgestürzten Blechtonnen gespickt im Dämmerlicht liegen kann. Im Auto geht das allgegenwärtige Geplapper vor der Kulisse apokalyptischer Wolken- und Wetterbilder auf bis zum Horizont zugestauten Straßen weiter. Vermutungen auszusprechen, soll diese in schutzbietenden Wahrheiten verwandeln.

Allerdings übertreibt es der Regisseur bei der ihm zur Odyssee geratenden Flucht vor der unsichtbaren Gefahr einige Male mit als witzig ­gedachten Szenen. Bei den Simpsons würde das meiste davon wahrscheinlich gut funktionieren, hier aber erzeugt es vor allem den Eindruck, dass der Film die existentiellen Bedeutung seines Themas nicht ernst nimmt. Auf die Dauer bewirken die wiederholten hektischen Aufbrüche, bei denen immer irgendwer nicht schnell genug in die richtige Richtung rennt, unversehens halbnackt in der Landschaft steht, überfahren oder niedergetrampelt wird, vor allem ­eines: Sie nerven.

Auch der abschließende Abschnitt kann nicht an den so betörend vom einlullenden US-amerikanischen Kleinstadtleben erzählenden ersten Teil anknüpfen. Das liegt kaum an Baumbachs wenigen Ergänzungen des Buchs, sondern eher daran, dass DeLillos Roman, der vor 37 Jahren erschienen ist, an vielen Stellen doch etwas aus der Zeit gefallen wirkt. Dabei übt er stellenweise eine hellsich­tige Medienkritik, die angesichts heutiger Fake News und Social-Media-Schlachten aktueller wirkt als je zuvor, und auch die Beschreibungen hilflos überstürzten Regierungshandelns in Reaktion auf eine unsichtbare Gefahr rufen sehr treffend die Pandemieerfahrungen der vergangenen Jahre auf.

Weniger gut gealtert ist jedoch die Art, in der das Hauptthema Todesangst und Verdrängung verhandelt wird. Denn kaum ist die Familie wieder ins eigene Heim zurückgekehrt, wetteifern Jack und Babette dar­um, wer von beiden sich mehr vor dem Tod fürchtet. Jack geht nach einer mittels Computerprogramm erstellten Diagnose davon aus, dass er sterben wird, weil er beim Tanken auf der Flucht zu lange dem toxischen Regen ausgesetzt war. Und Babette konsumiert keine illegalen Drogen, wie die Tochter vermutete, sondern war Probandin einer geheimen Medikamentenstudie. Eine psychoaktive Substanz namens Dylar soll Todesangst kurieren. Das Mittel lässt nicht nur den Tod bedeutungslos werden, sondern auch die Realität. Später prostituiert Babette sich, um das Medikament auf dem Schwarzmarkt kaufen zu können. Für Jack ist das schwer erträglich.

Richtig krude wird es, wenn gegen Ende unter Nutzung postmoderner Sprachspielklischees schnell noch ein an das Œuvre David Cronenbergs ­erinnernder Thriller-Teil gebastelt wird, in dem zu allem Überfluss Lars Eidinger als diabolisch verkommener ehemaliger Wissenschaftler und Barbara Sukowa als atheistische deutschstämmige Nonne auftreten müssen. Aber gerade als man den Film schon als verkorkst abschreiben will, gibt es einen letzten Ausflug der Beteiligten in den nun noch schöneren Supermarkt, der fast für die vorherigen Entgleisungen entschädigt und in eine der tollsten Abspann­sequenzen der Filmgeschichte übergeht. Zum Stück »New Body Rhumba« von LCD Soundsystem entsteht aus der gespenstischen Banalität der bunten Warenwelt eine Musikvideo-Choreographie, die bis zur letzten ­Sekunde bezaubert: ein Sieg der Ästhetik über den Inhalt, der DeLillos wahrscheinlich wirkmächtigstem Buch durchaus angemessen scheint.

Weißes Rauschen (USA 2022). Buch und Regie: Noah Baumbach. Darsteller: Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle. Kinostart: 8. Dezember