Wie die Fifa das wurde, was sie ist

Macht, Expansion und Korruption

Wie die Fifa das wurde, was sie heute ist. Eine kurze Geschichte der jüngeren Vergangenheit des Weltfußballverbands.

Um zu verstehen, mit welchen Pro­blemen europäische Fifa-Kritiker konfrontiert sind und wie diese entstanden sind, ist ein Blick in die Geschichte des Weltverbands nötig. In den siebziger Jahren kam die Dekolonialisierung des »Globalen Südens« zum Abschluss, was Verschiebungen in der Fifa zugunsten von Afrika und Asien zur Folge hatte. Zwischen 1954 und 1974 verdoppelte sich die Zahl der Fifa-Mitglieder nahezu.

Auf dem Fifa-Kongress 1974 konnte sich bei der Wahl des Fifa-Präsidenten der Brasilianer João Havelange gegen den englischen Amtsinhaber Sir Stanley Rous durchsetzen. Letzterer stolperte nicht zuletzt über seine Nähe zum südafrikanischen Apartheidregime. Havelange nahm Stellung gegen die Apartheid – anders hätte er sich die Unterstützung des afrikanischen Kontinentalverbands nicht sichern können – und wurde der erste Nichteuropäer an der Spitze des Weltverbands. Er gewann dank eines bis dahin in der internationalen Sportwelt beispiellosen Wahlkampfs, der ihn in 86 Länder führte, darunter einige obskure Inselstaaten.

Seit der Thronbesteigung Havelanges gerieren sich bei der Fifa korrupte weiße Männer, die wie Mafia-Bosse agieren, als Anwälte des »Globalen Südens«, der häufig in Gestalt korrupter Eliten und autokratischer Regime auftritt.

Havelange, ein Bewunderer der Nazi-Olympiade von 1936, an der er als Wasserballer teilgenommen hatte, und Freund südamerikanischer Mi­litärmachthaber, sah sich allein schon aufgrund seiner Herkunft für das Amt qualifiziert. Brasilien sei ein Mi­krokosmos der Erde, vereine in sich die Eigenschaften der Ersten, Zweiten und Dritten Welt. Die meisten Stimmen gab es für Havelange an der damaligen Peripherie des Weltfußballs zu holen – bei den Fußballeliten Afrikas und Asiens. Damit deren Delegierte zur Präsidentenkür erschienen, übernahm Havelange ihre Reisekosten. Er versprach ihnen die Ausweitung der Weltmeisterschaften auf 24 Teilnehmer, Unterstützung beim Bau von Stadien, Ausbildungsprogramme für Funktionäre, Trainer, Schiedsrichter und Ärzte sowie die Einführung einer Jugend-WM, mit deren Austragung nun vorwiegend Asien und Afrika bedacht wurden.

Gegen die dynamische Kampagne des Unternehmers Havelange war der ehemalige Schullehrer Rous chancenlos. Havelanges wichtigster Helfer war in den folgenden Jahren der Adidas-Besitzer Horst Dassler, den mal wohl als Begründer der modernen Sportkorruption bezeichnen könnte. Als Finanziers der Kampagnen Havelanges wurden Konzerne wie Coca-Cola gewonnen, die nun mit Hilfe der Fifa neue Märkte durchdrangen und Imageverbesserung ­betrieben.

Unter Havelange orientierte sich die Fifa auf die Vermarktung und avancierte zu einem Milliardenkonzern. Die Fifa-Analytiker John Sugden und Alan Tomlinson schrieben: »Havelanges Erfolg ist eine wunderbare Ironie der Fifa-Geschichte. Die Herausforderung der entwickelten Welt durch die Entwicklungsländer wurde von einer schillernden Figur der Moderne angeführt und ökonomisch abgesichert durch Geld aus den kapitalistischen Zentren Mitteleuropas und Nordamerikas. (…) Machtpolitisch verbanden die Fifa-internen Allianzen die aufstrebenden Nationen mit den marktpolitischen Absichten von multinationalen und transnationalen Interessengruppen, die noch immer fest in der Ersten Welt verankert waren.«

Dass die Fifa-Spitze mitnichten eine Veranstaltung von Gutmenschen war (und ist), offenbarte vier Jahre später die WM im von einer Militärjunta regierten Argentinien. Havelange und sein Umfeld waren begeistert vom Putsch der Militärs 1976; Havelanges Dank war überschwenglich: »Die Fifa dankt der argentinischen Regierung und dem argentinischen Volk für die großartige Arbeit, die sie für die Weltmeisterschaft geleistet hat.« Organisationschef des Turniers war der stramm konservative DFB-Präsident Hermann Neuberger, der die europäischen Kritiker der Dik­tatur darüber aufklärte, dass das südamerikanische Demokratieverständnis mit dem der Europäer nicht vergleichbar sei.

Bereits 1976 hatte Havelange von Junta-Chef Jorge Videla einen Verdienstorden empfangen. Später ernannte er Admiral Carlos Alberto ­Lacoste, den Turnierverantwortlichen der Junta, zum Vizepräsidenten der Fifa. Bei den WM-Turnieren 1982 und 1986 agierte Lacoste als rechte Hand von Havelange.

1998 wurde Havelange vom Schweizer Joseph Blatter abgelöst, den Horst Dassler 1975 in die Fifa eingeschleust hatte. Dort wurde Blatter zunächst Direktor für Entwicklungsprogramme. Diese dienten nicht nur der ­Expansion von Adidas, sondern auch der Verteilung von Schmiergeldern.

Auch Blatter kam mit Hilfe afrikanischer und asiatischer Funktionäre an die Macht. Vor seiner Wahl sollen 15 bis 20 Delegierte aus Afrika und Asien Briefumschläge mit je 50 000 US-Dollar erhalten haben. Blatters Gegenkandidat war der von den Europäern unterstützte Schwede Len­nart Johansson, der eine Demokratisierung der Fifa versprach. Aber für manche Vertreter des »Globalen Südens« stand Johansson für Eurozentrismus. Außerdem wurde ihm Rassismus vorgeworfen, unter anderem weil er sich in einem Interview de­spektierlich über schwarze Fußballfunktionäre in Südafrika geäußert hatte.

Blatter bediente sich der von Havelange geschaffenen Strukturen des Machterhalts beziehungsweise einer Methode, die sich nicht der Starken, sondern der manipulierbaren Schwachen bedient. Formal betrachtet ist die Fifa eine basisdemokratische Organisation. Im Fifa-Kongress verfügt jeder Nationalverband, unabhängig von seiner Größe und sportlichen Bedeutung, über eine Stimme. Doch insbesondere die Verbände kleinerer und ärmerer Länder sind für Gefälligkeiten empfänglich und manchmal schon für wenig Geld zu kaufen.

Blatters Nachfolger Gianni Infantino, seit 2015 im Amt, ist auf das Geld Europas nicht mehr angewiesen. Die Finanziers des Weltfußballs und des Infantinismus sitzen heute in der Golfregion, Infantino selbst residiert in Doha.

Seit der Thronbesteigung Havelanges gerieren sich korrupte weiße Männer, die wie Mafia-Bosse agieren, als Anwälte des »Globalen Südens«, der häufig in Gestalt korrupter Eliten und autokratischer Regime auftritt. So auch Infantino, seinerseits schweizerischer und italienischer Staatsbürger, der bei einer Pressekonferenz in Katar das WM-Gastland gegen ­Kritik mit den Worten verteidigte: »Ich denke, was wir Europäer in den vergangenen 3 000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3 000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen.« Es sei »traurig«, diese »Doppelmoral« erleben zu müssen.

Diese Rede hielt Infantino in einem Land, das zu den reichsten weltweit gehört, ein bedeutender Investor in Europa und Anteilseigner am europäischen Fußball ist, dessen Oberschicht dem, was es für westlichen Lebensstil hält, in London und Paris frönt. Ein Land, das seine WM-Infrastruktur einem rassistischen System der Ausbeutung zu verdanken hat, in dem europäische Arbeitsmigran­t:innen einen privilegierten Status genießen – im Gegensatz zu ihren »Kolleg:innen« aus Nepal, Bangladesh, Indien und einigen Ländern ­Afrikas.

Die Europäer, und hier insbesondere der DFB, haben es über viele Jahre versäumt, eine klare, glaubwürdige und attraktive Position gegen das System Fifa zu formulieren. Die Macht der Fifa-Führung und die gesamte mafiöse Struktur wurden weitgehend akzeptiert. Ein Franz Beckenbauer, aber auch die früheren DFB-Spitzenfunktionäre Peter Peters und Rainer Koch bewegten sich darin wie die Fische im Wasser. Und einer der wichtigsten Architekten des Systems war Horst Dassler gewesen. Dass die Fifa so ist, wie sie ist, fällt auch in deutsche Verantwortung. Wer mit der Fifa aufräumen will, muss auch mit der ­Politik des DFB der letzten 40 bis 50 Jahre aufräumen.

In der Diskussion über die Fifa, Infantino und Katar gilt es, zwei Fallen zu umgehen: Die eine besteht in Eurozentrismus und Rassismus, die andere in einem Pseudoantikolonialismus, der in seinem Kern nichts ­anderes als Clankriminalität ist und Bündnisse mit autokratischen und diktatorischen Regimen legitimiert – auf Kosten der Menschenrechte.

2004 durfte der Autor dieses Artikels 45 Minuten mit Havelange sprechen – auf Vermittlung eines Wissenschaftlers, der an einer Biographie des Fifa-Bosses arbeitete und mich ein wenig bekehren wollte. Havelange wusste, wen er vor sich hatte, entsprechend begann er seinen Monolog. Seit seiner frühesten Jugend habe er mit verschiedenen Rassen zusammengelebt und deren Mentalität kennengelernt. In São Paulo und Rio de Janeiro gebe es Straßen, in denen Araber auf der einen Seite und Juden auf der anderen Seite gelebt hätten – in Harmonie.

Infantinos oben zitierte Brandrede erinnert mich an dieses Gespräch. Damals musste ich mich anschließend erst einmal schütteln. Und ­daran erinnern, dass ich nicht mit einem »linken Antiimperialisten« und Kämpfer gegen den »Neokolonialismus« gesprochen hatte, sondern mit einem zutiefst korrupten Funktionär und Freund lateinamerikanischer Diktatoren, dessen »Eine-Welt-Philosophie« mitnichten altruistisch war.

Havelange, Blatter, Infantino: ­Keinem dieser Fifa-Bosse ging beziehungsweise geht es um Kritik an »Eurozentrismus«oder »europäischer Arroganz« et cetera. Es ging und geht um Stimmen, um persönliche Macht, um Expansion und Geld. Die Partner der Fifa-Bosse Partner in Asien, Afrika und der Karibik sind nicht progressive Kräfte, sondern häufig Autokraten und korrupte Fußball­eliten.