Die WM in Argentinien 1978 im Vergleich mit der in Katar stattfindenden

Als Diktaturen noch kein Problem waren

Die Fußball-Weltmeisterschaft findet dieses Jahr nicht zum ersten Mal in einem alles andere als demokratischen Land statt. Doch einiges war beim Turnier in Argentinien 1978 anders als heute.

»The Times They Are a-Changin’« – dieser Song von Bob Dylan trifft es gut, wenn man die Umstände und das Drumherum der Weltmeisterschaft im Männerfußball damals und heute vergleicht, also Argentinien 1978 und Katar 2022. Von einer Fußballweltmeisterschaft in einem arabischen Wüstenstaat konnte die Handvoll Fußballfreunde, die sich an einem Tag im Herbst 1977 trafen, noch nichts ahnen. Ein evangelischer Pfarrer hatte in seine Ludwigshafener Wohnung eingeladen, und ein Mainzer Rundfunkredakteur, ein Religionspädagoge und ein Student der Sozialpädagogik waren seiner Einladung gefolgt. Im Zentrum stand die Frage, wie man regional Öffentlichkeit schaffen könnte, um auf die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien, dem Gastgeberland der WM 1978, aufmerksam zu machen.

1976 hatte das Militär unter Führung des Armeegenerals Jorge Rafael Videla geputscht; das Land litt zu dieser Zeit unter hoher Verschuldung und war von heftigen politischen Auseinandersetzungen zerrissen. Sofort begann eine systematische Jagd auf alle, die dagegen opponierten und demonstrierten. Viele landeten in Gefängnissen und Folterkellern, wurden gequält und bestialisch getötet, sie blieben verschwunden oder wurden aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen. Wegen ihrer verschwundenen Kinder demonstrierten seit April 1977 jeden Mittwoch viele Mütter auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast, die nach diesem Platz »Madres de la Plaza de Mayo« genannt wurden. Dieser Protest für los desaparecidos, die Verschwun­denen, war friedlich und wurde bald nicht nur mehr national, sondern auch international bekannt und beachtet.

Viele argentinische Oppositionelle landeten in Gefängnissen und Folterkellern, wurden gequält und bestialisch getötet, blieben einfach verschwunden oder wurden aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen.

Im selben Jahr hatte die Rote ­Armee Fraktion (RAF) die bis dahin düsterste Phase der bundesdeutschen Nachkriegszeit, den »Deutschen Herbst«, eingeleitet. Dabei hatte es aus Südeuropa der Nelkenrevolution in Portugal 1974, die das Ende der dortigen Diktatur einläutete, sowie dem Tod des spanischen Caudillo Francisco Franco ein Jahr später, dem ein behutsamer Wandel hin zu einer konstitutionellen Mon­archie folgte, hoffnungsvolle Signale und Entwicklungen gegeben. Und um ein Haar wäre es 1976 in Italien zum »Historischen Kompromiss« ­gekommen, einem Regierungsbündnis von Christdemokraten und ­Kommunisten.

In Südamerika geschah in dieser Dekade das Gegenteil. Mit Unterstützung der CIA und des US-Außenministers Henry Kissinger wurde 1973 der frei gewählte chilenische Präsident Salvador Allende aus dem Amt geputscht. Und drei Jahre später setzten in Argentinien Militärs um Videla die schwache Regierung von Isabel Perón ab und begannen, Terror in der Bevölkerung zu verbreiten.

Unter den Verfolgten der Militärjunta waren auch Ausländer und Ausländerinnen, darunter 35 Deutsche, wie damals das Auswärtige Amt durch Staatsministerin Hildegard Hamm-Brücher mitteilte. Einige wurden freigelassen, die anderen in Gefängnisse geworfen. Ein Name ragte heraus und geriet auch in die deutschen Medien, in denen sonst nicht allzu ausführlich über das Geschehen in Argentinien berichtet wurde. Die Soziologiestudentin Elisabeth Käsemann aus Tübingen, die für die Schaffung einer antiautoritären, sozialistischen Gesellschaft kämpfte, war 1969 über Chile nach Argentinien gekommen. Nach dem Putsch 1976 war ihr klar, dass sie von nun an ihr Leben riskierte. Schließlich wurde sie festgenommen und sollte zunächst ausgetauscht werden, wurde dann aber am 24. Mai 1977 von den Schergen der Junta brutal ermordet.

Ihr Tod hätte vermutlich verhindert werden können, wenn die deutsche Nationalmannschaft die Einladung des argentinischen Verbands zu einem Freundschaftsspiel ein Jahr vor Beginn der WM ausgeschlagen hätte, um dadurch Druck auf das argentinische Regime auszuüben. Doch weder der Deutsche Fußball-Bund (DFB) noch die sozialliberale Bundesregierung zogen dies in Betracht. Zwei Wochen nach Käsemanns Ermordung fand das Spiel statt. Einige Spieler zeigten sich später betroffen, als sie davon hörten, allen voran der damalige Ersatztorhüter Sepp Maier, der äußerte, dass man das Leben der Frau hätte retten können, wenn man mehr gewusst und entsprechend gehandelt hätte.

Im Kontrast dazu waren die Missstände in Katar schon lange vor Beginn der umstrittenen WM 2022 in der deutschen Öffentlichkeit bekannt. Der Mangel an Demokratie, die Diskriminierung von Frauen und die Ignoranz in Sachen Diversität, im Verlauf der Vorbereitungen auch die schlechte Behandlung der Arbeiter auf den Baustellen für die neuen Stadien – all diese Themen gaben vielerorts und in den Medien Anlass zu Empörung und Protest. Das lag auch daran, dass sich die Struktur der Medien seit den siebziger Jahren radikal verändert hat. Waren es Ende der Siebziger lediglich eine Handvoll überregionaler Blätter, die gelegentlich über die politische und wirtschaftliche Situation in Argentinien berichteten, wurde Katar seit der Vergabe der WM kritisiert. Und das sehr zum Missfallen von Funktionären und einflussreichen ehemaligen Fußballern wie Franz Beckenbauer, der »keinen einzigen Sklaven in ­Katar gesehen« haben wollte.

Anders als vor der WM 1978 gab es diesmal keine peinlichen Äußerungen von Nationalspielern. Berti Vogts hatte damals gesagt: »Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.« Rolf Rüssmann wollte »neutral bleiben« und Rainer Bonhof meinte: »In Russland herrschen ähnliche Zustände.« Bundestrainer Helmut Schön übte sich in Diplomatie: »Wir haben keine ausgesprochene Diktatur gesehen.« Nur vereinzelt gab es Lichtblicke. Rudi Kargus fand das alles »bedrückend«, und Herbert Neumann forderte, die Zustände nicht totzuschweigen. Am konsequentesten war Sepp Maier, der ankündigte, er werde »dem General nicht die Hand schütteln und meine Hände auf dem Rücken verstecken«. Genau so verhielten sich nach dem Finale die Argentinien in einem dubiosen Spiel unterlegenen Spieler der Niederlande, die sich weigerten, ihre Silbermedaillen aus den schmutzigen Händen der Generäle zu empfangen.

Eine Haltung, über die der DFB und seine Spieler nach dem vorzeitigen Aus gegen Österreich nicht mehr nachdenken mussten. Ein Tiefpunkt war der Empfang des berühmten Nazis und ehemaligen Wehrmachtfliegers Hans-Ulrich Rudel durch den DFB-Präsidenten Hermann Neuberger im deutschen Mannschaftshotel in Ascochinga. Dass es zu einem solchen Skandal­besuch kam, lag auch daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg viele ­Nazis in Argentinien, Paraguay und Chile und untergetaucht waren und meist unentdeckt blieben. Nur in Einzelfällen gelang es mutigen ­Menschen wie Beate und Serge Klarsfeld auch hier, Naziverbrecher auf­zuspüren.

Die vier Teilnehmer des Treffens in Ludwigshafen gingen damals resigniert auseinander und kamen auch nicht mehr zusammen. Außer einem Rowohlt-Bändchen und einigen kritischen Artikeln aus der Frankfurter Rundschau lag nichts auf dem Tisch. Regional bekannte Fußballer anzusprechen, hatte ohne publizistische Unterstützung an Ort und Stelle keinen Sinn. Was darüber hinaus fehlte, waren andere Veröffentlichungen und die Unterstützung durch alternative Medien, wie es sie im Fall von Katar von Anfang an gab. So wäre vor Katar niemand auf die Idee gekommen, einen Schlagersänger und die Nationalspieler mit einem gemeinsamen WM-Lied à la »Buenos dias Argentina« zu präsentieren, wie es 1978 geschah.

Der Verlag »Die Werkstatt« veröffentlichte schon im Jahr vor der WM den Band »Boykottiert Katar!« von Dietrich Schulze-Marmeling und Bernd-M. Beyer, der die Vergabe und Vorbereitung der WM 2022 ­umfassend kritisierte. Zwar hat auch diesmal kein Teilnehmerland das Turnier boykottiert, aber die Begeisterung ist diesmal weitaus geringer als üblich, ja geradezu gedämpft. Vor der WM 1978 fehlten leider noch die Voraussetzungen, um solches Problembewusstsein auf breiter Basis zu schaffen, auch Fanproteste in Bundesligastadien wären undenkbar gewesen.