Das „ZDF Magazin Royale“ befasst sich mit dem Selbstbestimmungsgesetz

Die Ainsworth-Böhmermann-Pipeline

Das ZDF verkündet das Ende der Zweigeschlechtlichkeit. Anfang Dezember widmete sich der Moderator Jan Böhmermann im »ZDF Magazin Royale« dem Selbstbestimmungsgesetz und seinen Kritikern. Dabei ging so einiges durcheinander.

Jan Böhmermanns »ZDF Magazin Royale« ist bekannt dafür, Aufreger zu produzieren. Kaum hatte sich die Empörung über ein satirisches Fahndungsplakat gelegt, folgte nun auch der nächste Eklat: Die Sendung vom 2. Dezember, die sich dem Selbstbestimmungsgesetz und seinen Kritikern widmete, hat hohe Wellen geschlagen. Nicht nur überschritt Böhmermann mit seiner in der Form witzig gemeinten, in der Sache diffamierenden Darstellung die Grenzen des guten Geschmacks, er verletzte auch journalistische Grundregeln bei der Aufbereitung eines Themas, das eine gewisse Sorgfalt dringend erfordert hätte.

Es sei »längst wissenschaftlicher Konsens«, dass es biologisch mehr als zwei Geschlechter gebe, verkündete der Moderator salopp, ganz so, als handele es sich dabei um eine unumstößliche Tatsache. Als Beleg musste dann allerdings ein Artikel aus dem Tagesspiegel herhalten. Eine dürftige Beweisführung, zumal der Artikel des Biologen Heinz-Jürgen Voß lediglich einen 2015 erschienenen Beitrag der Biologin Claire Ainsworth aus dem Fachmagazin Nature wiedergibt – und dies auf sehr strittige Weise. Denn anders als die Titelung des wissenschaftsjournalistischen Beitrags in Nature nahelegen könnte (»Sex Redefined«), will Ainsworth, wie sie unmissverständlich erklärte, ihn »ganz und gar nicht« als Widerlegung der biologischen Zweigeschlechtlichkeit verstanden wissen. »No, not at all. Two sexes, with a continuum of vari­ation in anatomy/physiology«, stellte sie am 21. Juli 2017 auf Twitter klar, nachdem ihr Beitrag verschiedentlich als Plädoyer für das Modell von Vielgeschlechtlichkeit herhalten musste. Ainsworth war von Mitgliedern der Wissenschafts-Community darauf aufmerksam gemacht worden, dass ihr Aufsatz im Netz zahlreiche Missdeutungen erfahren hatte.

In dem vielzitierten Aufsatz trägt sie neuere Forschungsergebnisse zusammen, die sich mit anatomischen und physiologischen Variationen von Geschlecht (sex) beschäftigen. Es geht darin um (seltene) Abweichungen innerhalb des binären Modells. Und dieses Modell ist nach allgemeiner Lehrmeinung auch weiterhin gültig, auch wenn einzelne Biologen wie der Autor des Tagesspiegel-Artikels um einen Perspektivwechsel bemüht sind.

Die Ainsworth-Böhmermann-Pipeline ist ein Beispiel dafür, wie Mythen in den digitalen Medien Wirkmacht gewinnen können. Die Verbreitung des Postfaktischen ist dabei nicht unbedingt von manipulativen Absichten getrieben. In vielen Fällen ist sie – auch wenn fake news im Spiel sind – das Produkt einer dynamischen Meinungsformierung, die heutzutage oft an klassischen Gatekeepern vorbeigeht. Unter Gatekeepern versteht die Medientheorie Personen und Institutionen, die Nachrichten prüfen, sortieren und auswählen. Aufgrund der wachsenden Bedeutung digitaler Kommunikation verbreiten sich Falschbehauptungen und Halbwahrheiten oft rasend schnell, insbesondere wenn sie von reichweitenstarken Influencern kolportiert werden. Einmal im Schwarm angekommen, verdichten sie sich zu Narrativen. Findet die laute Post genug Widerhall, können Falschbehauptungen als »wahr genug« erscheinen, wie die Politikwissenschaftler Russell Muirhead und Nancy Rosenblum sagen.

Die Kolportage, wonach das binäre Geschlechtermodell in der Forschung als überholt gelte, nahm im Juli 2022 an Fahrt auf, nachdem ein öffentlicher Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht zur Zweigeschlechtlichkeit aus Sicht der Biologie nach Protesten von Aktivistengruppen abgesagt wurde. Schon vor diesem Eklat hatte die in linken Kreisen beliebte Influencerin Annika Brockschmidt den Beitrag von Ainsworth als Beleg dafür angeführt, dass Vielgeschlechtlichkeit dem Forschungsstand der Biologie entspreche und Vollbrecht transfeindliche Ziele verfolge. Als Brockschmidt stärker in die Debatte über Vollbrecht einstieg, wurde der Beitrag zur vielbemühten Referenz dafür, dass Zweigeschlechtlichkeit nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspreche. Zwar äußerten Trans-Aktivisten wie Felicia Ewert schon länger die Ansicht, dass man durch eine Aussage über seine Geschlechtsidentität auch das entsprechende biologische Geschlecht habe. Jedoch war selbst in queeren Gruppen die Unterscheidung von (binärem) sex und (mannigfaltigem) gender keineswegs so kontrovers, wie es sich schon wenige Tage nach der Ausladung Vollbrechts darstellte. Erst mit der Kampagne ­gegen sie kam die Netzgemeinde zu dem Schluss, dass das Modell der biologischen Zweigeschlechtlichkeit bereits auf dem Müllhaufen der Wissenschaft liege.

Mythenbildung ist keiner politischen Richtung vorbehalten. Immerhin liegen ihr psychologische Mechanismen der Selbstvergewisserung zugrunde, zum Beispiel »identitätsschützende Denkfehler«, wie es der Philosoph Philipp Hübl nennt. Ne­gative partisanship etwa, also die Tendenz, aus Prinzip eine Gegenhaltung zu verhassten Akteuren einzunehmen, kommt in allen politischen Milieus vor, insbesondere in digitalen Kontexten. Der Soziologe Petter Törnberg spricht hier von »affektiver Polarisierung«: einem Prozess, bei dem Akteure in ständiger Interaktion mit dem Gegner ihre Position neu bestimmen – und sich dabei abgrenzungsmotiviert verhalten. Die Kampagne gegen Vollbrecht, in der das Bild einer dämonischen »Fischbiologin« generiert wird, ist dafür symptomatisch. Nicht nur wurde das Gerücht gestreut, die biologische Geschlechterbinarität sei widerlegt und eine Berufung auf diese biologistisch und transfeindlich. Auch das Framing, wonach es sich bei den als trans-exclusionary radical feminists (Terfs) diffamierten Kritikerinnen von bestimmten Formen des Trans-Akti­vismus um rechtsextreme, ja faschistische Kräfte handelt, stellt eine ra­dikale Engführung dar.

Mehr noch: Solche talking points, wie sie Brockschmidt gerne produziert, stellen eine Relativierung von Rechtsextremismus und Faschismus dar. Es ist eine Sinnentleerung der Begriffe für eigene politische Zwecke. Ähnliches gilt für Bemühungen in queeren Zusammenhängen, den Begriff des Holocaust umzudeuten – als Konzept, das alle Opfer des Nationalsozialismus umfasse. Auch das ist ein Trend, der erst in der Reibung mit Vollbrecht entstanden ist und vor kurzem noch undenkbar war.

Der treibende Mechanismus ist klar ersichtlich: Zuerst kommt die Verurteilung Vollbrechts als transfeindlich, dann folgt die Begründung. Und weil ihre provokanten Tweets nicht ausreichen, um eine Kampagne zu rechtfertigen, die an das Mobbing von »Drachenlord« Rainer Winkler er­innert, wird das Framing passend gemacht. Plötzlich ist dann jegliche Binaritätsauffassung Ausdruck rechter Trans- und Wissenschaftsfeindlichkeit. Logisch, dass solchen Neudefinitionen Dynamiken folgen, die den »Opfern« jenes Framings als Eruption des Reaktionären er­scheinen.

Mit ihrer Übernahme treibt Böhmermann eine Dynamik des Postfaktischen voran – zum Nachteil der Betroffenen. So etwa, wenn er die ­Befunde eines Transgendertrends als bloße transphobe Stimmungsmache abtut. Ein Artikel im Deutschen Ärzteblatt, veröffentlicht am Sendetag, konstatiert jedoch, dass es kaum einen Medizinbereich gebe, wo im letzten Jahrzehnt ein so »eklatanter Prävalenzanstieg zu beobachten war« wie bei Transgeschlechtlichkeit.

Über die Gründe herrscht Uneinigkeit. Während die einen vermuten, dass Aufklärung und wachsende Akzeptanz zu mehr Coming-outs beitrügen, befürchten andere, dass »trans« eine leicht verfügbare Identifikationsschablone geworden sei, die eine schnelle Lösung diverser psychischer Probleme verspreche. Für eine gute Behandlung von (vermeintlich) genderdysphorischen Menschen ist die Klärung solcher Fragen entscheidend.

Hinzu kommt, dass die Evidenz­basis bei Pubertätsblockern unzureichend ist, was in Großbritannien, Schweden und Finnland schon zu einer Revision der bisherigen Praxis geführt hat: Sie werden nur noch in einem engen Rahmen, zum Beispiel in klinischen Studien, eingesetzt. Generell ist das Thema »Trans-Kinder« eines, das ob der irreversiblen Schäden, die detransitioners vermehrt ­beklagen, ernst zu nehmen ist. Durch das queere Framing aber wird eine sorgfältige Auseinandersetzung verächtlich gemacht – und so auch jeder Versuch, sich für Trans-Rechte einzusetzen, ohne diese in Widerspruch zur biologischen Binarität zu sehen.

Vor allem ist der politische Schaden groß. Denn das queere Lager nähert sich dem Niveau von »Schwurblern« an – Verschwörungsdenken inklusive. Eine Allianz von Terfs, Rechtsextremen und Putin gibt es ebenso wenig wie eine von Genderisten, Globalisten und George Soros. Auch Vollbrecht & Co. für transfeindliche Übergriffe verantwortlich zu machen, ist hanebüchen. Genauso gut könnte man Linksradikalen die Schuld an der Ermordung Walter Lübckes geben, weil sie harsche Kritik an der CDU üben. Mit solchen Erzählungen leistet Böhmermann der zunehmend aggressiveren Rhetorik in Teilen des queeren Lagers Vorschub, das Kritikerinnen als Terfs diffamiert und diese als existentielle Bedrohung verhetzt.