Günther Rühle schildert die Entstehung des Regietheaters in Deutschland

Die wilde Zeit

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Im Vergleich zu Band eins und zwei von Günther Rühles »Geschichte des Theaters im deutschsprachigen Raum« ist der dritte mit seinen 800 Seiten geradezu übersichtlich geraten, die beiden anderen sind jeweils fast doppelt so umfangreich. Rühle, im vergangenen Jahr im Alter von 97 Jahren verstorben, konnte den letzten Band, der die Jahre von 1967 bis 1995 behandelt, nicht mehr selbst fertigstellen, er verlor kurz vor seinem Tod sein Augenlicht. Umso beeindruckender liest sich die ganz aus Rühles eigener Anschauung gespeiste Darstellung.

Rühle schrieb in den sechziger und siebziger Jahren Theaterkritiken für die Frankfurter Allgemeine Zeitung; in den achtziger Jahren übernahm er die Intendanz des Frankfurter Schauspiels, bevor er 1990 als Feuilletonchef zum Berliner Tagesspiegel ging. In seiner Zeit als Theaterleiter förderte er Einar Schleef und entdeckte Martin Wuttke, als Kritiker war er ein aufmerksamer und kunstsinniger Beobachter des Theaters in seiner Zeit.

Was Rühle schildert, ist die Geburt des deutschen Regietheaters aus dem Geist der Achtundsechziger-Generation. 1966 machten zwei nicht einmal 30jährige Neuerer Furore: Claus Peymann inszenierte die Uraufführung von Peter Handkes »Publikumsbeschimpfung«. Und so ging es weiter. Peter Stein, der später die Berliner Schaubühne zu Weltruhm brachte, und Peter Zadek, der in Bochum und Hamburg für Aufsehen gesorgt hatte, betraten die Bühne; in München wurde Rainer Werner Fassbinder entdeckt und in der DDR sorgte Heiner Müller für Skandale. Es begann eine wilde Zeit, in der die dringenden politischen Fragen der Bundesrepu­blik dieser Jahre, von der Studentenrevolte bis zum bewaffneten Kampf, auf die Bühnen drängten. Für Rühle endeten mit dem »wiedervereinigten Theater« in den neunziger Jahren sowohl die linke als auch die bürger­liche Tradition des Theaters. Und das Neue? Ist unklar. Aber ­hoffentlich wird es dafür einen so großartigen Chronisten wie Rühle ­geben.

Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967–1995. Seine Ereignisse – seine Menschen. ­Fischer, Frankfurt am Main 2022, 800 Seiten, 98 Euro