05.01.2023
Die Arbeitskämpfe in Großbritannien gehen unvermindert weiter

Ausgedehnte Störungen im Betriebsablauf

Großbritanniens Streikwelle hält auch im neuen Jahr an, in Flughäfen, Krankenhäusern und bei der Bahn wurde bereits die Arbeit niedergelegt. Die Regierung will trotzdem nicht verhandeln.

Es rumort kräftig bei den Tarifverhandlungen in Großbritannien. Britische Tageszeitungen und auch der ­öffentlich-rechtliche Sender BBC veröffentlichten im Dezember Advents­kalender, die die verschiedenen sich überlappenden Arbeitskämpfe an­zeigten. Gestreikt wird vor allem im Gesundheitsbereich, bei den Grenzkontrollbehörden und bei teilprivatisierten vormaligen Staatsunternehmen wie der Post und der britischen Eisenbahn. Insbesondere die Streiks von Pflege- und Krankenwagenpersonal sorgten für Aufsehen. Das Royal College of Nursing (RCN), die größte Berufsgewerkschaft in diesem Sektor, rief zum ersten Mal in seiner über 100jährigen Geschichte zum Arbeitskampf auf – bemerkenswert für die ­Organisation, die sich bislang immer aus Streiks des Gewerkschaftsdachverbands Trade Union Congress (TUC) herausgehalten hatte. Die hohe Inflationsrate, die zuletzt bei weit über zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr lag, führt dazu, dass die Tarifangebote der Arbeitgeber signifikante Reallohnverlusten gleichkämen.

Im öffentlichen Dienst gibt es jährlich Empfehlungen verschiedener ­unabhängiger Kommissionen für Lohnsteigerungen; die der Kommission für den National Health Service (NHS), das staatliche Gesundheitswesen, betrugen in diesem Jahr für Krankenpfleger:innen vier bis 5,5 Prozent. Die Regierung übernahm die Empfehlung, das RCN lehnte das Angebot ab und fordert stattdessen eine Lohnsteigerung im Bereich von fünf Prozentpunkten über der Inflationsrate. Die RCN-Generalsekretärin Pat Cullen wies darauf hin, dass Jahre von Reallohnverlusten auszugleichen seien. Sie hinterfragte auch die Unabhängigkeit der Lohnkommission, offenbar nicht zu Unrecht: Untersuchungen der Financial Times zufolge hatte die Kommission von 1998 bis 2010, als Labour regierte, immer Tarifabschlüsse empfohlen, die die Inflationsrate übertrafen. Seit 2010 die Konservativen die Regierung übernahmen, war die Kommission weniger großzügig: Zunächst gab es drei Jahre Nullrunden, und seit 2013 sank der Reallohn fast jedes Jahr.

Pat Cullen hat wiederholt betont, dass es nicht nur um die Löhne geht, sondern auch um Arbeitsbedingungen: Da die Arbeit im NHS seit Jahren sehr schlecht bezahlt wird, gibt es viele unbesetzte Stellen, was zu oft unbezahlten Überstunden führt. Im Dezember begann die erste Streikwelle, an der über 100 000 Pflegekräfte teilnahmen. 70 000 Routineoperationen fielen aus, während die Krankenpfleger:innen nurmehr die Notaufnahme aufrechterhielten sowie höchst dringende ­Operationen ermöglichten. Für nicht wenige Patienten fühlte sich der Streik indes kaum anders an als der Normalbetrieb. Nach Jahren der Krise im Gesundheitsbereich sind lange Wartezeiten für die meisten Operationen keine Besonderheit mehr.

Die Regierung unter Premierminister Rishi Sunak hat derweil kaum Anzeichen für ein Einlenken gezeigt. Prinzipiell sind den Konservativen Arbeitskämpfe nicht unwillkommen. Sie platzieren sich gerne als Hüter der Finanz- und Arbeitsdisziplin gegen angeblich radikale Gewerkschaften und eine von diesen kontrollierte Labour-Partei. Auch diesmal scheint Sunaks Regierung dieses Bild zeichnen zu wollen und zeigt sich unnachgiebig.

Im Bahnbereich, der faktisch seit Beginn der Covid-19-Pandemie wieder verstaatlicht ist, verweigert die Regierung jede Intervention in den Tarifkonflikt zwischen den Bahnbetreibern und der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT). Die RMT ist traditionell eine der aktivsten Gewerkschaften in Großbritannien und hat immer wieder gezeigt, dass die Räder buchstäblich stillstehen, wenn die RMT-Mitglieder das wollen. Seit dem Sommer wird immer wieder gestreikt, zudem weigern sich die Lokführer, Überstunden zu machen: Weite Teile des britischen Bahnnetzes sind immer wieder außer Betrieb. Sunak und die Konservativen hoffen indes, dass die Briten das Verständnis für die Streiks verlieren werden und sich, nicht zuletzt angefacht durch konservative ­Medien, gegen die Bahnarbeiter und den eloquenten und unerschrocken ­sozialistischen RMT-Vorsitzenden Mike Lynch stellen.

Die Aktionen der RMT zeigen Wirkung. Im Vorweihnachtsgeschäft ­haben die Bahnstreiks der Financial Times zufolge zum Beispiel die Gastro­industrie bis zu 1,5 Milliarden Pfund an Einnahmen gekostet, weil viele Büros wegen der Bahnstreiks leer blieben und die Betriebe Weihnachtsfeiern in Pubs und Restaurants absagten.
Mike Lynch und die Bahnarbeiter der RMT mögen für das konservative Feindbild der radikalen Gewerkschaften taugen, und tatsächlich sind die Sympathien der Briten beim Bahnstreik geteilt. Ganz anders sieht es indes im Gesundheitssektor aus, dessen Personal Umfragen zufolge von einer großen Mehrheit der Briten in seinen Forderungen unterstützt wird.

Auch bei den Konservativen gibt es inzwischen einige Stimmen, die die ­Regierung hier zum Einlenken und zu Verhandlungen auffordern. Es müsse einen Kompromiss geben zwischen dem Angebot der Regierung und der Forderung der Gewerkschaften, sagte zum Beispiel der ehemalige Justizminister Robert Buckland. Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Unterhaus, Steve Brine, sagte, die ­Regierung solle der Lohnkommission empfehlen, ihren Vorschlag zu ver­bessern. Viele Kritiker verweisen auf Schottland, dessen Regionalregierung für den dortigen Gesundheitsbereich verantwortlich ist. Die schottische ­Regierung konnte den Streik der Krankenpfleger durch eine Lohnerhöhung um 7,5 Prozent vermeiden.

Die Konservativen fürchten, dass sich durch die breiten sektorenübergreifenden Streiks das Gefühl einstellt, die Regierung verliere die Kontrolle. Premierminister Sunak versucht, diesem Eindruck entgegenzuwirken: Die Regierung hat die Armee mobilisiert, um in gewissen Bereichen, wie bei den Grenzkontrollen und bei den Krankentransporten, die streikenden Beschäftigten zu ersetzen. Gleichzeitig bereitet die Regierung Verschärfungen des Arbeitsrechts vor, um Streiks zu beschränken. Eine Idee für den Transportbereich ist, die Tarif­parteien zu verpflichten, einen Mindestbetrieb aufrechtzuerhalten, auch im Streik.

Viel zu verlieren hat Sunak nicht mehr. Die Konservativen liegen in ­derzeitigen Umfragen 20 Prozentpunkte hinter der oppositionellen Labour-Partei. Nun erhofft die Regierung wohl, dass Härte in den Arbeitskämpfen am ehesten das Profil der Tories stärken kann. Im Lauf des Januars stehen noch mehr Streiks in Großbritannien an, ­voraussichtlich auch in weiteren Sektoren: Die Lehrergewerkschaften lassen derzeit ihre Mitglieder über den Eintritt in den Arbeitskampf abstimmen.