Ein Gespräch mit Finn Job über seinen Roman „Hinterher“

»Ich bin für die Fiktion«

Der Roman »Hinterher« von Finn Job spielt im Sommer 2017 in Berlin und der Normandie. An einem Samstagmittag Ende Dezember 2022 erzählt der Autor in einem französischen Rauchercafé im Westen Berlins von der Generationserfahrung des Rumopferns, den Vorzügen des Archivs und warum er es nicht schafft, ein Buch von Édouard Louis zu Ende zu lesen.
Interview Von

Wie war der Weg hierher?

Angenehm. Im Taxi lief Eminem und ich habe den Fahrer gefragt, ob er es lauter stellen kann. Ich war gut gutgelaunt und er war gutgelaunt. Eigentlich lässt sich alles besser aushalten, wenn Eminem einen anschreit.

Sie haben eine Weile Deutsche ­Literatur, Philosophie, Komparatistik, Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft studiert und die Universität dann verlassen, um, so Ihr Verlag, »in Ruhe lesen zu können«. Inzwischen sind Sie selbst Literat. Wie sind Sie auch ohne abgeschlossenes Studium zum Schreiben gekommen?

Das Schöne an unserem Zeitalter ist doch, dass alles archiviert wurde und daher niemand gezwungen ist, Cloudrap zu hören. Also, es sei denn, man verlässt
das Haus.

Ich habe mich immer für Literatur interessiert. Als ich aber Literatur studiert habe, interessierte sie mich nicht mehr. Gleiches gilt für die Kunstgeschichte oder die Philosophie. Ich habe schlagartig das Interesse daran verloren, sobald ich mich damit beschäftigen musste. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Es ist nicht so, dass ich immer schon geschrieben hätte – das wäre gelogen. Ich hatte lange keine Form dafür, und ehrlich gesagt auch keinen Inhalt. Deshalb habe ich lieber gewartet, bis mir etwas Anständiges eingefallen ist.

Welche Autoren haben Sie beeinflusst oder inspiriert?

Es ist ja schon drei Jahre her, dass ich das Buch geschrieben habe. Finden Sie mal einen Verlag, der einen Roman verlegt, in dem ein schwules Paar von jungen Muslimen durch die Straßen gejagt wird! Ich liebe Françoise Sagan, Bret Easton Ellis und Roberto Bolaño. Saul Bellow natürlich und Joseph Roth. Ich liebe Michel Houellebecq, Gisela Elsner und Jonathan Littell, Imre Kertész und Klaus Mann. Ich denke, ich habe von ihnen allen gestohlen. Und von der klassischen Literatur möchte ich in diesem Zusammenhang lieber gar nicht erst anfangen.

Der Ich-Erzähler Ihres Romans »Hinterher« geht mit dem akademischen Betrieb hart ins Gericht: »Es geht nie um den Gegenstand, sondern immer nur um den Sprechort, die Privilegien und ihre Dekonstruktion.« Entspricht das Ihren eigenen Erfahrungen im Studium?

Das ist doch eine Erfahrung, die viele machen. Ich höre ständig solche Geschichten: Dass Leute, die sich für die Geisteswissenschaften interessieren, ihr Studium vorzeitig abbrechen, weil sie es nicht ertragen, dass sich ihre Kommilitonen mehr mit dem Geschlecht oder der Herkunft der Autoren beschäftigen als mit dem, was sie sagen. Ich habe mich dann gefragt, ob das wirklich ein guter Grund ist, ein Studium abzubrechen, und warum anscheinend niemand mehr die Konfrontation sucht. Mein Protagonist ist vielleicht mehr Vertreter seiner Generation, als ihm lieb ist. Er schafft es nicht, die Konflikte aus­zuhalten, sich zu streiten oder zumindest zu argumentieren. Ich würde meinen, dass er seinen Gegnern in gewisser Weise ähnelt, auch in seiner Selbstviktimisierung, seinem Rumopfern. Er hat sicherlich einige nega­tive Erfahrungen gemacht, aber dann schnell beschlossen, dass er sich da­gegen immunisieren und den Rückzug antreten muss.

Der Erzähler hasst die Kunst und die Künstler. Er bezieht sich dabei auch auf Thomas Bernhard. Wie steht er zur Literatur?

Ich weiß nicht, ob ich das so sehen würde. Auch Thomas Bernhard hat schließlich die Künstler, zumindest die guten, nicht gehasst. Bernhards Negativität ist eine einzige Wertschätzung der Kunst, er nimmt sie sehr ernst und erträgt es deshalb nicht, wenn die Kunst versagt. Letzten Endes richtet sich der Hass seines Erzählers selbst in »Holzfällen« gegen sich selbst. Und zur Literatur: Vielleicht ist das Drama meines Pro­tagonisten, dass er nicht mehr lesen kann. Er versucht wieder und wieder, Proust zu lesen, doch nichts kommt bei ihm an.

Der Erzähler bricht mit dem postmodernen Berlin und flieht zusammen mit dem Künstler Francesco, der ihn »Boy« nennt, nach Frankreich. Verflochten wird die Reiseerzählung mit der Geschichte über seine ehemalige Liebe, Chaim, der zurück nach Tel Aviv gegangen ist. Neukölln, Amiens, Tel Aviv – warum gerade ­diese Schauplätze?

Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich wollte auf jeden Fall über die Normandie schreiben, da dort so viel passiert ist: die Gotik und mit ihr die Entstehung der Kunst, der Impressionismus und mit ihm die Entstehung der modernen Kunst. Flaubert, Maupassant und schließlich Proust haben dort die moderne Literatur erfunden. Europa wurde von dort aus von den Deutschen befreit. Ich war dann einmal dort und mir ist auf­gefallen, wie heruntergekommen dieser schöne Landstrich ist, dass er nur wenig mit meiner romantischen Vorstellung zu tun hatte und sich die Milchbauern dort reihenweise selbst umbringen. Das barg ein gewisses Konfliktpotential … Neukölln, Amiens, Tel Aviv – jetzt, wo Sie das sagen, fällt mir auf, dass das alles sehr religiöse Orte sind, also Tel Aviv ist natürlich ein sehr säkular-religiöser Ort.

Am Anfang wird ein Spießrutenlauf des Erzählers durch Neukölln beschrieben: Überall lauern Salafisten, Antisemiten und Schwulenhasser, überall liegt Müll. Geht es dem Erzähler besser, nachdem er Berlin zusammen mit Francesco verlässt?

Zunächst sieht es so aus. Zumindest gelingt es ihm, sich außerhalb Deutschlands Gedanken zu machen, die Erinnerung überkommt ihn immer öfter, auch wenn er mit ihr nichts anzufangen weiß. Das ist doch nur verständlich, dass man anfängt nachzudenken, wenn man an einem anderen Ort ist, zumal an einem Ort, der zunächst verspricht, weniger Angst auszulösen. Vielleicht gibt es da kurz einen Moment im Auto, als sie losfahren, und er noch bereit ist, mit Francesco zu sprechen … Frankreich ist ja nicht nur das Land, in dem der Katholizismus die schönsten Baudenkmäler hinterlassen hat, sondern auch das Land der Aufklärung.

Der Roman beginnt mit einem kulturpessimistischen Zitat von Proust: »Die wahren Paradiese sind jene, die man verloren hat.« Nicht mal die »Flucht« in die französische Staatsnation vermag einen Ausweg zu bieten. Gibt es für den »Boy« überhaupt eine Chance für ein »Zurück« in das Zeitalter von Françoise Hardy und Serge Gainsbourg?
Das Zitat ist aus dem letzten Teil der »Recherche«, aus dem Teil, in dem es dem Erzähler gelingt, die verlorene Zeit wiederzufinden. Deswegen habe ich es nicht als kulturpessimistisch verstanden, sondern eher als Versprechen. Proust schafft es, mithilfe der Literatur eine quasireligiöse Erfahrung zu evozieren. Der Erzähler Marcel kann sich und den Leser in sein früheres Ich hineinversetzen. Und da der Tod für Proust das Sterben eines Ichs bedeutet, besiegt er so gewissermaßen den Tod. Ich denke, das hat mit Kulturpessimismus nichts zu tun. Und zu Gainsbourg: Das Schöne an unserem Zeitalter ist doch, dass alles archiviert wurde und daher niemand gezwungen ist, Cloudrap zu hören. Also, es sei denn, man verlässt das Haus.

Der Boy und Francesco kommen – permanent auf Drogen – bei Gédéon unter, einem durchgeknallten »Kulturschaffenden«, der sich vulgär auf Pierre Bourdieu bezieht und ein »Kunsthotel« eröffnen möchte. Bietet die Kunst für den »Boy« noch einen Rettungsanker aus der Misere, bestehend aus Liebeskummer, Kulturkritik und Substanzmissbrauch?

Ich habe leider einen Protagonisten, der den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Dann ist er plötzlich wieder sehr klar. Es gibt immer wieder Momente, in denen er die Gegenwart stark ästhetisiert oder Vergleiche zu Bildern, Texten und Filmen sucht. Am Anfang passen die Bilder noch, doch irgendwann entgleiten sie ihm. Schließlich weiß er gar nicht mehr, wen er eigentlich zitiert, und er benutzt die Kunst, wie er alles benutzt: um sich selbst zu verletzen. Deshalb müsste ich diese Frage wahrscheinlich mit nein beantworten.

Der Roman widmet sich ausführlich dem Drogenkonsum. Welche Rolle spielt die Rauscherfahrung für Ihre Figuren?

Das Problem des Erzählers ist ab einem gewissen Punkt, dass die Drogen nicht mehr wirken. In den Rückblenden erfährt man, dass er sie ­früher genutzt hat, um mehr zu empfinden, während er sie jetzt benutzt, um weniger zu empfinden. Und auch das ist eine Erfahrung, die viele ­machen. Sie fangen aufgrund einer Erfahrungsoffenheit damit an und dichten sich schließlich nur noch gegen die Wirklichkeit ab – oder sie werden, wie Francesco, ernsthaft abhängig. Das klingt nun etwas bieder. Ich möchte natürlich jedem meiner Leser empfehlen, sehr viele Drogen zu nehmen!

Sie spielen mit Rückblenden und erzählen auf den Zeitachsen von Vergangenheit und Gegenwart. In einer Szene geht es um die Kindheitserinnerungen, in der anderen um den Liebeskummer und in der nächsten wird ein Traum geschildert. Warum haben Sie sich für diese Erzählweise entschieden?

Es gibt eine äußere Handlung und Rückblenden. Ich wollte einen Roman über das Verdrängen der Erinnerung schreiben, natürlich spielt dann das Unbewusste und damit auch die Kindheit eine Rolle. Und selbstverständlich musste ich deshalb auch immer wieder mit Rückblenden arbeiten. Ansonsten gibt es einen festen Zeitraum, in dem das Ganze spielt: Sommer 2017. Anhand historischer Ereignisse wie dem Attentat in Nizza erfährt man, dass die meisten Rückblenden bis ins Jahr 2015 zurückreichen. Diese Erzählweise ist doch recht klassisch!

Spielt der Titel »Hinterher« auf diese Erinnerungsproblematik an?

Der Titel kam während des Schreibens. Ab einem gewissen Punkt ist mir aufgefallen, dass Francesco den Protagonisten immer hinter sich herzieht. Der Roman ist eine einzige Fluchtbewegung. Allerdings keine Flucht, die sich der Protagonist selbst aussucht. Er nutzt sie zwar für seine Zwecke, aber er wird gezogen. Und dann habe ich angefangen, »Hinterher« groß zu schreiben, denn mir ist aufgefallen, dass der Protagonist sowohl im Privaten als auch im Politischen annimmt, dass die Kämpfe alle gekämpft und verloren sind. Jetzt muss der Ärmste wie ein Untoter auf dieser traurigen Erde umherwandeln.

Édouard Louis hat genau wie vor ihm Didier Eribon die Erfahrung von Homophobie, Gewalt und Diskriminierung geschildert. Gibt es bei Ihnen neben der Genera­tionszugehörigkeit irgendwelche Gemeinsamkeiten mit Louis?

Gott bewahre! Ich konnte ehrlich gesagt keinen Roman von Louis bis zum Ende lesen. Diese Borniertheit langweilt mich zu Tode. Vielleicht ist es auch ein Formproblem. Sobald man behauptet, mit dem Erzähler identisch zu sein, fängt man an zu lügen, weil man schließlich als sympathisches Kerlchen erscheinen möchte. Anders kann ich mir nicht erklären, warum all diese selbsternannten Selbstethnologen so selbstgerecht sind. Manche können etwas besser schreiben als andere. Annie Ernaux zum Beispiel kann sehr gut darstellen, wie es in einer Altachtundsechzigerin, die ihre Kränkung zum Geschäftsmodell gemacht hat, denkt. Nun gut, auch das wird schnell langweilig.

Autofiktion, selbst soziologisches Erzählen, gibt es ja schon sehr lange und mich beschäftigt eher, woher derzeit die große Nachfrage kommt. Ist das Ausdruck eines neuen Tri­balismus oder stürzt man sich in ein »Ich«, um die Dekonstruktion wieder in den Griff zu bekommen? In jedem Fall würde ich diese Entwicklung als Selbstvergewisserung einer verschwindenden und deshalb für Bigotterie immer anfälliger werdenden Mittelschicht verstehen … Und traurig ist, dass auch Autoren von diesem Authentizitätskitsch affiziert werden, die es eigentlich besser können. Selbst Christian Kracht belästigt uns mit seinem Privatleben! Ich bin für die Fiktion und damit für die Identifikation. Die moderne Literatur hat schließlich mit Flaubert angefangen, damit, dass er sagte: »Madame Bovary, c’est moi.« Die Abkehr von diesem Prinzip bedeutet das Ende von Literatur, so wie ich sie liebe.

Kritisieren Sie, dass eigentlich immer dasselbe geschrieben und alles elitärer wird?

Nein, ich habe nichts gegen elitäre Literatur, also wenn sie sich nicht selbst verleugnet. Und natürlich ­schreiben diese Leute immer dasselbe. Auch das wäre an und für sich kein Problem, das könnte interessant sein. Nicht nur Ernaux, sondern auch andere Nobelpreisträger jüngeren Datums wie Patrick Modiano oder Peter Handke schreiben in gewisser Weise immer dasselbe. Doch sie kreisen im Gegensatz zur Erstgenannten nicht um ein Nichts, im ­Gegenteil!

Braucht die Literatur am Ende doch eine ordnende Perspektive, eine moralische Instanz? In Ihrem Roman fungiert Chaim als eine Art weiser – jüdischer – Chefkritiker der Deutschen. Ist er das Gewissen in »Hinterher«?

Heine hat gesagt: »Deutschland, das sind wir selber.« Es ist daher kein ­Zufall, dass er seine schönsten Gedichte im Ausland, in Paris geschrieben hat. Ich glaube, das hat mein Protagonist nicht so recht verstanden. Er ist unheimlich selbstgerecht, er ist selbstmitleidig, er lässt seine beste Freundin Hatice im Stich, obwohl sie ernsthaft in Gefahr ist. Vielleicht benutzt er deshalb Chaim als einen Gegenpol. Vielleicht lagert er etwas aus. Chaim selbst kommt nicht zu Wort und ist deshalb keine klassische Figur. Francesco kann widersprechen. Chaim, aber auch andere Akteure, können das nicht. Sie sind abwesend und können den Bewusstseinsstrom des Protagonisten daher nicht durchbrechen.

Auf der Fahrt nach Amiens läuft im Auto die ganze Zeit »Radio Nostalgie«. Techno sei schlimmer als Wagner, heißt es an einer Stelle – eine Metapher für den Verfall der Moderne?

Der »Tristan« ist doch recht hübsch … Aber ich würde meinen ­Roman ungern weiter erklären.

Sie wollen Ihren Roman nicht selbst erklären. Sollte »Hinterher« mehr offene Fragen als ­Antworten hinterlassen?

Ich habe doch schon recht viel erklärt! Der kürzlich verstorbene Hans Magnus Enzensberger meinte einmal in einem Interview, Worte würden sich von Musik unterscheiden, eben weil sie etwas bedeuten, etwas erklären, und nicht nur klingen. Es wäre daher auch nicht so schlimm, wenn der Leser etwas verstünde … Aber ja, Literatur ist immer auch uneindeutig. Und wahrscheinlich wäre meine eigene Interpretation gar nicht so spannend.

Kann man sich auf einen weiteren Roman von Ihnen freuen?

Natürlich. Ich schreibe gerade an einem Alpenkrimi (lacht). Ich stecke mitten in der Arbeit.

Finn Job: Hinterher. Wagenbach, Berlin 2022, 192 Seiten, 22 Euro