Die Biographie von Claudius Seidl über den Regisseur Helmut Dietl

Im Dietl-München

Der Journalist Claudius Seidl hat eine Biographie über den Lebemann und Filmemacher Helmut Dietl geschrieben – und nebenbei auch über die Stadt München, in der Dietl nicht nur lebte, sondern wo auch seine Filme und Serien spielten.

Es gibt eigentlich zwei Protagonisten in diesem Buch. Da ist einmal der Regisseur Helmut Dietl, Chronist des süßen Lebens und lodernder Eitelkeiten, der Serien wie »Monaco Franze« oder »Kir Royal« und Filme wie »Rossini« drehte. Und dann ist da die Stadt München. Beide, so zeigt sich im Verlauf von Claudius Seidls wunderbarer, leichtfüßig erzählter Biographie mit dem Titel »Helmut Dietl – Der Mann im weißen Anzug«, bedürfen einander, werden sich durch die Dekaden hindurch begleiten und gegenseitig prägen. Der vaterlose und heimatlose Filmemacher Dietl, der als titelgebender Mann im weißen Anzug zur Inkarnation eines Münchner Lebensgefühls und Mythos wird; und die Stadt, die sich gleichsam zum Entwurf eines besseren, weil weniger deutschen Deutschland wandelt – auch durch Dietl. Nördlich der Alpen gelegen, aber doch bei­nahe mediterran: »Mehr Straßencafés, bessere Laune, mehr Musik, mehr Flirts, mehr Lächeln, mehr Süden.« Für Dietl, im Geiste immer schon einem idealisierten, phantastischen Süden zugeneigt, war das einer der wenigen Orte in der Bundesrepublik, an denen es sich aushalten, ja sogar leben ließ.

Warum München trotz seiner Bedeutung für den nationalsozialistischen Aufstieg zur wahrscheinlich liberalsten Stadt Nachkriegsdeutschlands werden konnte, zumindest eine kurze Zeit lang, erzählt Seidl gekonnt: Da sind nicht nur das Erbe der Räte­republik und der Einfluss der Familie Mann, sondern selbstverständlich auch die US-amerikanischen Befreier, die ihre Musik und Filme mitbrachten; da sind ferner die nachhallenden Schwabinger Jugendkra­walle der frühen Sechziger sowie jene Deutschen, denen Westberlin zu morbide und Hamburg zu unsinnlich-protestantisch war und die es deswegen ins lebenslustig-katholische München zog. Die Liebe zu München und eine Ode an die Liberalitas Bavariae fand man auch beim kürzlich verstorbenen Filmemacher Klaus Lemke, der die Stadt an der Isar gerne eine von sich selbst besoffene »Ganztagslüge« nannte, »aber eine, die sich lohnt«. Oder beim Schriftsteller Maxim Biller, der über München vermerkte, dass man dort die Freiheit finde, »jemand zu sein, der manchmal auch ganz anders ist als du selbst und dem du gerade deshalb unbedingt zuhören willst«. Und dann ist da noch vor allem eine spezifische Eigentümlichkeit der bayerischen Arbeiterklasse, des Kleinbürgertums und ihrer Dialekte: eine grundlegende Verachtung von Autorität und eine tiefsitzende Lust, in den bestehenden Verhältnissen anzuecken. Ein starker Hang »zur Uneigentlichkeit, zu Irrealis, doppelter Verneinung und verwirrender Mehrdeutigkeit«, wie Seidl einmal so schön bemerkt.

In der Fernsehserie »Münchner Geschichten« von 1974, Dietls erstem Großprojekt, finden sich bereits in der Eröffnungssequenz der ersten Episode unüber­seh­bare Indizien für die aufrührerische Bavarität.

In der Fernsehserie »Münchner Geschichten« von 1974, Dietls erstem Großprojekt, finden sich bereits in der Eröffnungssequenz der ersten Episode unübersehbare Indizien für diese aufrührerische Bavarität. Da protestieren junge Leute gegen die Gentrifizierung des Viertels und werden von der Polizei in Gewahrsam genommen, während die Älteren am Straßenrand wüst auf die Polizei schimpfen. Großmutter Anna Häusler, gespielt von der jüdischen Schauspielerin Therese Giehse – eine frühere Lebensgefährtin Erika Manns und Gründungsmitglied des Polit­kabaretts Pfeffermühle – befreit eine bereits im Polizeiwagen sitzende ­Demonstrantin mit der spontanen Lüge, das Mädchen wohne bei ihr. Im Hintergrund schreit noch jemand, dass die Zeiten des Polizeistaats nun vorbei seien.

Nazis gab es wohl wenige in der Familie des 1944 geborenen Dietl. Stattdessen den einen Großvater, der nach Dachau deportiert wurde, weil er Kommunist war, und den anderen, den österreichischen Schauspieler Fritz Greiner, den Seidl vor allem als halbweltlichen Strizzi, als Lebemann charakterisierte, der mit den Alliierten parlieren konnte. Dietls Vater bleibt hingegen blass, das Verhältnis zu ihm ist schlecht und der junge Dietl sich relativ sicher, dass sein tatsächlicher, leiblicher Vater ein italienischer Flüchtling war, den die Mutter für kurze Zeit versteckte und mit dem sie ein Verhältnis hatte. Der verlorene südländische Vater, eine Chiffre für Fernweh und Kosmopolitismus, wird in Dietls Lebensweg, als Münchner und als Filmemacher, gewissermaßen zum Wegweiser. Er fühlt sich nicht eigentlich deutsch, kann nicht viel anfangen mit der bierseligen Dumpfheit der Deutschen. Aber dafür registriert er deutlich, wie sich die Umbrüche der Sechziger gewissermaßen wie von selbst und mit viel weniger Grimmigkeit als in anderen deutschen Städten in München bemerkbar machen.

Dem geht der junge Dietl nach, treibt sich nachts herum – »strawanzen« nennt er das. Dabei führt ihn sein Weg etwa in »Lilos Leierkasten«, eine berühmte Schwulenbar, oder in die Rolle einer umgekehrten Mrs. Robinson, wenn er die Tochter der berühmten Volksschauspielerin Elfie Pertramer verführt und nach dem Ende der Beziehung auch mit der Mutter anbandelt, seiner ersten Gönnerin und Mentorin im Filmgeschäft. Im Café Europa beziehungsweise später dann Café Adria, dem Treffpunkt des jungen, jüdischen München, lernt Dietl den Schauspieler Towje Kleiner kennen, den er ­sowohl in den »Münchner Geschichten« als auch in »Der ganz normale Wahnsinn« besetzt. Im selben Café feiert Dietl ausgelassen den israelischen Sieg im Sechstagekrieg.

In »Der lange Weg nach Sacramento«, der siebten Folge aus den »Münchner Geschichten«, verkleiden sich die Figur von Towje Kleiner und ihre zwei Freunde zum Fasching als Cowboys, samt echter Pferde, und liefern sich schließlich ein Gefecht mit drei berittenen Münchner Polizisten. Auch hier Sehnsucht nach dem »imaginären Süden« oder Südwesten, der Dietl immerfort umtrieb, wie Seidl schreibt. »Man merkt ihren Gesprächen deutlich an, dass sie noch niemals in Amerika waren; sie haben noch nicht einmal eine genau Vorstellung davon, wo der Wilde ­Westen liegt. Sie haben nur das romantische Gefühl, dass man als Cowboy oder Pistolero ein freierer Mensch sei«, heißt es über das Trio um Towje Kleiner.

Claudius Seidls Schreibstil ist kongenial, denn er strawanzt ebenfalls, nur eben auf dem Papier. Er hat verstanden, wie wichtig das Episodische bei Dietl ist: für den erfahrungshungrigen jungen Mann und schließlich auch für den Filmemacher, dessen Serien wohl nicht zufällig alle ein klein wenig subversiver gerieten als seine Filmprojekte. Und ebenso wie Dietls romantische Strizzi-Figuren den Unterschied zwischen Fiktion und Wahrheit stets als einen ästhetisch zu überwindenden betrachten, folgen in Seidls Buch auf herrliche wahre Episoden bisweilen herrlich erträumte: etwa die, als Dietl nach Rom und Cinecittà reiste und vielleicht, ganz vielleicht, dem ebenfalls in der Stadt befindlichen Clint Eastwood beim Kartenspielen eine Menge Geld abknöpfte.

Die »Münchner Geschichten« machten Dietl zum Star, es folgten Ruhm, Drogen, Bernd Eichinger, Es­kapaden in Hollywood, irgendwann auch das Ende des liberalen München, das den kleinen Leuten, Lebenskünstlern und Bohemiens Unterschlupf bot. Was bleibt, ist Dietls Dagegenhalten mit Hilfe der Fiktion, der Gegenentwurf eines kosmopolitischeren München. Obgleich dieses andere, dieses Dietl-München, in »Monaco Franze – Der ewige Stenz« (1983) und »Kir Royal (Aus dem Leben eines Klatschreporters)« (1986) zunehmend melancholisch und ­bösartig gezeigt wird.
Und Berlin, fragte der Biograph Seidl einmal den gealterten Helmut Dietl bei einem Dinner in Mitte, nicht lange bevor er 2015 verstarb, wie sehe er denn Berlin? Worauf Dietl mit einem Zitat aus »Monaco Franze« antwortete – typisch für ihn, dem das künstlerische Schaffen die eigenen biographischen Details immer wieder ersetzte, erweiterte und verwandelte. Berlin, sagte Dietl wie aus der Pistole geschossen, »ein Scheißdreck ist es«.

Claudius Seidl: Helmut Dietl – Der Mann im weißen Anzug. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 352 Seiten, 25 Euro